"Es gibt kein richtiges Leben im falschen" (Theodor W. Adorno). In zeitgenössischen Philosophie-Debatten wird einmal wieder über Adorno gesprochen. Sein
viel zitiertes Diktum über die Unmöglichkeit, sich in den bestehenden Verhältnissen ein politisch und moralisch einwandfreies Leben einzurichten, ist in seinem apodiktischen Gestus für Martin Seel Anlass zu folgender, in seiner Schlichtheit bestechenden Klarstellung: "Für bare Münze genommen, wäre das ein rein zynischer Satz. Er liefe auf die Ausrede hinaus, da die Möglichkeit richtigen Lebens nun einmal verstellt sei, sei es ganz gleichgültig, wie man
sein Leben gestalte. Adorno aber meint das Gegenteil. Anstatt sie aufzuheben, bekräftigt er die Differenz von richtig und falsch. Auch wenn ein im Ganzen richtiges Leben unmöglich ist, so ist es für ein unverblendetes Dasein äußerst wichtig, sich den Sinn für das Richtige nicht abkaufen zu lassen."

Dahingestellt sei, ob dieser "Sinn für das Richtige", den Martin Seel da fröhlich postuliert, so einfach zu haben ist. Den darin implizierten Sinn für Kritik wollen wir uns jedenfalls angesichts des (wer hätte anderes erwartet?) bildgewaltigen (ja -gewalttätigen) Dokumentarfilms von Michael Glawogger nicht abkaufen lassen. Verblendung ist ein schönes Stichwort. Kino als (Re-)Produktion eines Verblendungszusammenhangs, dafür ist Michael Glawoggers Film ein beredtes Beispiel. Allerdings, dies sei gleich zu Beginn erwähnt, sieht sich die Autorin mit einem bösen Problem konfrontiert. Der Film verführt zum Fundamentalismus: Es drängt sich bei seiner Betrachtung schlicht und einfach die Frage auf, ob es nicht tatsächlich Dinge gibt, von denen der heterosexuelle Mann besser schweigen
sollte. Das Leben und die Arbeit der Huren zum Beispiel, da er, der heterosexuelle Mann, bis heute der Selbstreflexion nicht fähig zu sein scheint. Ungeniert fabriziert er seine reaktionäre Filmwelt des "so ist es", verwechselt seine von Machtinteressen geleitete Perspektive mit Unvoreingenommenheit, weil er nicht in der Lage oder vielmehr überhaupt willens ist, sich die Komplizenschaft seines Tuns mit den falschen Verhältnissen zu vergegenwärtigen.

Aber zum Film: Whore's Glory. Glory, Ruhm, Ehre, Herrlichkeit, Stolz. Wer, wenn nicht (Möchtegern-)Freier, Zuhälter oder die katholische Kirche, Machos also, Produzenten und Profiteure herrschender gesellschaftlicher Doppelmoral, könnten auf die Idee kommen, es ginge darum, der Hure ein Denkmal zu setzen, sie zu verherrlichen, ihre Ehre sei etwas, das (wieder) hergestellt werden müsste? Ruhm und Ehre sind Begriffe, die nicht der Hurenwelt angehören, sie entstammen der Welt der Nutznießer patriarchaler Ordnung.

Wolfgang Thalers Kamera wirft die Zuschauer/in gleich zu Beginn des Films in die Arbeitswelt eines Bordells in Bangkok. Eingeklemmt zwischen zwei Häusern hängt in einigen Stockwerken Höhe ein Glaskasten, in dem Prostituierte sich in aufreizendem Tanz den
Passanten auf der Straße anbieten. Sie sind schön. Die Kamera verweilt immer wieder auf
dem Geschlecht der Frauen, die sich in knapper Bekleidung an Metallstangen reiben. Coole
Musik auf der Tonspur. Das ist die Animierphase. Ist der Kunde und wir mit ihm in den
Räumlichkeiten des Bordells angelangt, das wie ein Supermarkt organisiert ist, kommt ein
weiterer Glaskasten zum Einsatz. In ihm sitzen die Frauen, deren sexuelle Arbeit feilgeboten
wird, in der Auslage. Draußen spricht der Zuhälter mit den Kunden über die Vorzüge und
Preise der angebotenen Leistungen. Drinnen sprechen die Frauen über ihre Familien und die
Langeweile zuhause. Wir können gar nicht anders als uns den Blick der Freier zueigen
machen, uns fragen, welche Frau wir ausgewählt hätten, mit Erstaunen reagieren, wenn eine
ausgewählt wird, die wir nicht attraktiv finden. Manchmal fällt der Blick der Kamera auch auf
die Freier, die so übel ja gar nicht ausschauen, eigentlich doch nette Kerle! Komplizenhaft der
Zuhälter mit den Freiern, komplizenhaft wir mit der Geschäftemacherei der Kamera, die sich
der Warenästhetik andient, mit der die Frauen ihre Arbeit verkaufen. Es ist doch schön, mal
so entspannt im Bordell dabei zu sein!

Irgendwann folgt die Kamera einigen Frauen nach draußen auf die Straße. Genüsslich breitet der Film ein Gespräch zwischen ihnen aus, in dem über die Vor- und Nachteile von Freiern je nach Herkunftsland gesprochen wird. Ja, schwarze Männer haben wirklich (so lernen wir,
denn wer wenn nicht Prostituierte wissen das ganz genau?) große Schwänze und Inder riechen nicht gut. Was ist daran eigentlich interessant? Dass sich die Entrechteten für ihre Rechtlosigkeit mit einer Verachtung rächen, die nach genau denselben Gesetzen funktioniert wie die Entrechtung ihrer eigenen Person: Sexismus und Rassismus.

Die zweite Sequenz ist in einem Stadtviertel in Faridpur, Bangladesch, angesiedelt, das als riesiges Bordell fungiert. Die Frauen, die dort arbeiten und leben, sind eingesperrt. Sie sind aus der Gesellschaft jenseits des Tores zu dem Viertel, das irgendwann in der Nacht verschlossen wird, radikal ausgeschlossen. Kinderprostituierte, die von guten und von schlechten Freiern erzählen (Achtung, hier können Männer etwas lernen, da gibt es doch tatsächlich Unterschiede, ein guter Freier ist doch irgendwie okay, auch wenn die Prostituierte noch minderjährig ist, nicht?), alte Frauen, denen nichts übrig bleibt, als mit Hunderten
anderer Frauen um die Gunst der Freier zu buhlen, alte Frauen, die nach einem langen Prostituiertenleben jetzt als Zuhälterinnen arbeiten und endlich andere ausbeuten können. Das ist wirklich spektakulär! Und erst die Sprache, die den Frauen in den Untertiteln in den Mund
gelegt wird, wenn sie über den Sex mit ihren Kunden berichten. Wo sich in dieser Sequenz Obszönität in den Bildern nicht herstellen ließ, will es scheinen, wird sie umso deftiger in den Untertiteln inszeniert. Mit großer Trauer sitzt die Zuschauer/in im Kino und sehnt sich nach einer Sitznachbar/in, die das Bengali der Frauen versteht und erzählen könnte, wie sie wirklich sprechen! Bei den Freiern, die zwischenrein erzählen dürfen, warum und wie oft sie das Viertel aufsuchen, um Sex zu kaufen, wäre das tatsächlich nicht weniger interessant. Immerhin sagt einer, er glaube, es würde in Faridpur eine Revolution ausbrechen, wenn es das
Bordellviertel nicht gäbe. Eine verlockende Vorstellung!

Auch die dritte Sequenz des Films spielt in einem Stadtviertel, das als Bordell organisiert ist: Reynosa, Mexiko. Die Körper der Frauen vor der Kamera sind von Arbeit, Alkohol und Drogen gezeichnet. So eng wie in Bangladesch ist es hier nicht, und die Zuhälter bekommen wir auch nicht zu Gesicht. Dafür die Freier umso ausführlicher. Und vor allem: endlich mal Sex vor der Kamera! Das ist einfach nur trostlos. Aber so ist es doch, oder? Am Ende des Films starrt die Kamera minutenlang auf das nackte Geschlecht einer Prostituierten, die mit einer Kollegin eine Crack-Pfeife raucht. Sprachlosigkeit. Das ist es, was die Feier des So-
Seins produziert. Entsetzliche Sprachlosigkeit. Ein Zurücksinken, das lähmende Gefühl absoluter Machtlosigkeit. Wer wollte es sich da nicht lieber auf der Seite der Filmenden als auf der Seite der Gefilmten einrichten?!

Dieser Film ist aus purem Voyeurismus gemacht. Einem Voyeurismus, der sich nahtlos in die Ausbeutungsverhältnisse einfügt, die er "einfach nur" abzubilden vorgibt. Er ist reaktionär, da er eben diese Verhältnisse glorifiziert - und nicht zuletzt den Filmemacher selbst. Er hat für den Film in Venedig den Spezialpreis der Orizzonti-Sektion bekommen. Sich selbst hat Michael Glawogger, wie in mehreren Interviews nachzulesen, zum (Werbe-)Fachmann für Prostitution ernannt. Spannend die Frage, ob er die Prostituierten für ihre Arbeit - ganz in der Manier eines "guten" Freiers - aufs Fürstlichste entlohnt hat. Denn die gibt es ja, die guten
Freier, das haben wir in Bangladesch gelernt. (Katja Wiederspahn)