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Eine Straßenbahn auf dem Taksim-Platz in Istanbul: Ein Bild vom 30. Jänner.

Foto: REUTERS/Osman Orsal

Wirklich allerspätestens seit Vico Torriani weiß man: „Im Sommer scheint' Sonne, im Winter, da schneit's.“ Auch in der Türkei, und überhaupt in der Türkei. Von Erzurum und Kars im Osten – Namen, die schon beim Aussprechen nach minus 20 und ewigem Eis klingen –, bis hoch nach Edirne an der bulgarischen Grenze, wo im Winter Schnee zu liegen hat oder besser fürchterlicher Matsch, der „kasch“, dreckig und halb gefroren, weil die Bulgaren überzeugt sind, dass es bei ihnen immer am Schlimmsten ist. Dazwischen liegt Istanbul.

Der Istanbuler, welcher von Natur aus ein Hudler ist, hat zuerst versucht, den Schnee zu übersehen. Er hat keine Zeit für solchen Firlefanz. Als Großstadtseemann, der tagaus tagein durch das Häusermeer pflügen und dabei noch Geld verdienen muss, gerne viel, wenn es geht, ja sehr viel, als Mensch ohne Zeit also und mit nur mäßigem Sinn für Ordnung, misst er Meter und Minuten, von einer Ampel zur nächsten. Und dann schneit's mit einem Mal. Herr Topbaş, der Bürgermeister über 13 oder 16 Millionen Seelen, rät morgens im Fernsehen, man soll das Auto zu Hause lassen. Werft eure Haustiere aus dem Fenster, hätte er genauso gut sagen können. Istanbul muss fahren, hupen und stauen.

Es ist jetzt nicht so, dass Istanbul zum ersten Mal in knapp 1600 Jahren vom Schnee überrascht worden wäre. „Größte Kälte seit 33 Jahren“, melden die türkischen Zeitungen über die Lage in der größten Stadt des Landes. Es muss also noch Zeitzeugen des letzten Schneesturms am Bosporus geben, Menschen mit Vorwissen, denen die Erfahrung mit der fürchterlichen Naturgewalt ins Gedächtnis – eingebrannt wäre jetzt das falsche Wort, sagen wir, geschrieben wurde. In der Stadtverwaltung sitzen sie jedenfalls nicht. Obwohl: Man darf den Damen und Herren nicht unrecht tun. Alles, was Istanbul wohl an Räum- und Streufahrzeugen aufzubieten hat, schrubbt jetzt über die Straßen. Über die ganz großen Straßen, die Boulevards und die Stadtautobahnen. Überall sonst liegt Eis und Schnee. Keiner räumt, jeder schlittert. Kopfsteinpflaster und Gehsteige mit Steinplatten, die in wärmeren Zeiten mit Hingabe täglich geflutet und poliert werden, erweisen sich jetzt als Knochenbrecher. Wahrscheinlich sind Schneeschaufeln das einzige, was man in dieser Stadt nicht kaufen kann.

Seit drei Tagen geht das jetzt so. Die Stadt ist unerhört langsam geworden und mit ihr sind es auch die Istanbuler. Sie kommen immer wieder an die Fenster ihrer Wohnungen, schauen den Schneeflocken zu oder bewundern die Autos, die auf den Fahrbahnen herumkreiseln. Auch noch nach Mitternacht entschließen sich Spaziergänger mitunter zu spontanen Schneeballschlachten, Treffer werden lautstark gefeiert. Auf dem Bosporus ziehen die Kapitäne unentwegt am Schiffshorn, von frühmorgens bis spätabends. Schneesturm auf See ist so eine Sache, hoffentlich sieht das Radar etwas, wenn sonst schon niemand etwas sieht. Und schließlich hat der Schnee ein Wunder in Istanbul bewirkt: Platz, unendlich viel Platz zum Gehen in der Stadt, ganz vorsichtig natürlich.