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Mitte Jänner, als Frankreich (wie auch Österreich) das Triple-A verlor, machten Franzosen ihrem Ärger mit Demonstrationen vor dem Pariser S&P-Gebäude Luft.

Foto: Reuters

In Paris hat Standard & Poor mit der Rückstufung Frankreichs ein Politbeben ausgelöst - ausgerechnet vor den Präsidentschaftswahlen.

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Nichts deutet darauf hin, dass hinter der Glasfassade an der Rue de Courcelles in Paris eine Finanzmacht herrscht: Standard & Poor's, die Präsidenten wie Barack Obama oder Nicolas Sarkozy ins Zittern bringt, hat an ihrem - neben Frankfurt - wichtigsten Geschäftssitz in Europa nicht einmal ein Firmensignet angebracht. Weil die Franzosen schlecht auf S&P zu sprechen sind, seitdem sie ihr Triple-A verloren haben? "Unanständig" nannte sie der französische Staatschef, der seine Wiederwahlchancen im Mai wegen der Rückstufung seines Landes schwinden sieht.

Auf die Frage, ob sie sich dadurch getroffen fühle, antwortet Carol Sirou schmunzelnd: "Nur ganz leicht." Standard & Poor's ist in Frankreich binnen Wochen zum Inbegriff des Bösen geworden - und die freundliche Chefin des Pariser Ablegers in Paris zu einem landesweit bekannten Gesicht: Sirou muss die US-Agentur auf allen TV-Stationen gegen ihre eigenen Landsleute verteidigen.

Freiwillig tut sie das nicht: "Glücklich lebt man im Verborgenen", zitiert die Ökonomin an der Frühstücksbar ein französisches Sprichwort. Dann lädt sie die geladenen Journalisten in den Sitzungssaal, wo auf jedem Sessel ein Stapel Statistiken und Grafiken bereitliegt. Die Französin räumt freimütig ein, dass ihre Agentur nicht von allen Regierungen bezahlt wird, deren Länder sie benotet. Aber umgekehrt habe eine Bezahlung keinerlei Einfluss auf das Rating - da die Honorare objektiven Kriterien folgten. Transparent sind laut Sirou die Beurteilungsfaktoren. Dazu gehört bei Länderratings - neben den Währungs-, Fiskal- und makroökonomischen Kriterien - auch die Politik. "Rechts" oder "links" spiele aber keine Rolle, meint Sirou.

Hohe Staatsschulden

Auch der Ausgang von Wahlen sei sekundär, ergänzt S&P's Chefökonom für Europa, Jean-Michel Six; als die Sozialisten in Frankreich 1981 mit François Mitterrand an die Macht gekommen seien, habe das Land sein Triple-A auch nicht verloren. Wichtiger seien Stabilität, Vorhersehbarkeit, Transparenz und Vertrauenswürdigkeit einer Regierung. Schöne Worte - und doch gibt Six unfreiwillig eine hochpolitische Stellungnahme ab: In einem generellen Exkurs führt er aus, dass die französische Staatsschuld seit Beginn der Finanzkrise 2007 um 600 Milliarden Euro gestiegen sei.

2007 war indessen das Jahr, in dem Nicolas Sarkozy an die Macht kam. S&P sagt also dasselbe wie die französische Linksopposition: Der amtierende Präsident ist teilweise selber schuld an den Sparplänen, die er seit Sommer 2011 seinen Bürgern verpasst.

Eine französische Journalistin will wissen, warum denn Frankreich nur von S&P, nicht aber vom Rivalen Moody's abgestuft worden sei. Das Rating umfasse 22 Noten, da stelle ein Grad mehr oder weniger keine gewaltige Differenz dar, erwidert der nonchalante Chefökonom. Bei einer anderen Frage räumt er dennoch ein, dass die Agenturen unterschiedlich zu Werke gehen: Der chinesische Konkurrent Dagong messe dem Wirtschaftswachstum mehr Gewicht bei, meint Six: "Man darf sich fragen, warum." Mag sein, dass die Chinesen stolzer auf ihren Wirtschaftsboom sind als andere. Aber wenn dem so ist, heißt dies auch, dass die Ratingagenturen von ihrer eigenen Wirtschaftskultur geprägt sind. Und die wichtigsten Messinstitute kommen nun einmal aus den USA.

"Wir haben aber auch die US-Bonität abgestuft", wirft Sirou ein. "Aber erst, nachdem Sie die US- Immobilienrisiken und damit die Subprimes-Krise übersehen hatten", kontert ein anderer Pariser Journalist. "Alle Akteure haben sich getäuscht und ihr Mea Culpa abgelegt", rechtfertigt sich Sirou. "Eine der Lektionen daraus ist, dass wir das Stressniveau bei so hohen Marktrisiken noch höher ansetzen müssen - oder keine Beurteilung mehr abgeben sollten."

Die Eurokrise hat S&P nicht verpasst: Sie stuft heute, da die Lage an den Finanzmärkten gespannt bleibt, selbst Länder wie Frankreich oder Österreich gnadenlos ab. Direktorin Alexandra Dimitrijevic verweist auf eine Statistik, die ein plötzliches Auseinanderklaffen deutscher und südeuropäischer Obligationenzinsen ab 2008 ausweist. Von 2000 bis 2008 war dieser "spread" hingegen gleich null gewesen. "Wir glauben, dass auf eine jahrelange Risiko-Unterschätzung eine Periode plötzlicher Überschätzung folgte", analysiert Dimitrijevic.

Und warum hatten die Finanzmärkte das Risiko mit den südeuropäischen Papieren bis 2008 unterschätzt? Anders gefragt: Warum leiden etwa die Portugiesen heute unter einem zehnmal höheren Spread, obwohl ihre Staatsschuld und ihr Budgetdefizit vor fünf oder zehn Jahren ähnlich hoch lag?

"Wir sind nicht immer einverstanden mit den Finanzmärkten", verteidigt sich Dimitrijevic. "Ratings stellen nur auf die Kreditwürdigkeit ab, die Märkte hingegen auch auf Liquidität und Volatilität." Die Antwort, warum denn die Agenturen nicht schon in ruhigeren Zeiten Alarm geschlagen und Rückstufungen vorgenommen hatten, bleibt die freundliche Ökonomin schuldig. Zum Glück erinnert sie keiner der anwesenden Journalisten an den bekannten Pariser Börsenfachmann Marc Touati, der die Ratingagenturen mit der Kavallerie in amerikanischen Western verglich: Beide, so meinte er, träfen am Ort des Geschehens ein, wenn es zu spät sei. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, Printausgabe, 2.2.2012)