Sarah Spiekermann ist Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien, wo sie dem Institut für BWL und Wirtschaftsinformatik vorsteht. Seit über 10 Jahren lehrt und forscht sie zu sozialen Fragen der Internetökonomie und Technikgestaltung.

Ist es nicht seltsam, dass 88 Prozent der Leute behaupten, sie wären besorgt darüber, wer Zugriff auf ihre Daten hat? 86 Prozent behaupten, sie würden sich immer mehr Sorgen um ihre Datensicherheit machen. 85 Prozent erwarten, dass Regierungen Unternehmen sanktionieren, die Daten missbrauchen. In den USA würden sogar 83 Prozent der Verbraucher Geschäfte mit Unternehmen vollständig unterlassen, wenn sie hören, dass diese mit den Informationen ihrer Kunden Missbrauch treiben.

845 Millionen Menschen auf Facebook

Gleichzeiting sind aber 845 Millionen Menschen auf Facebook aktiv und jeden Tag werden über 250 Millionen Fotos auf die Plattform hochgeladen. In vielen Ländern nutzen über 70 Prozent der Käufer Kundenkarten. Ist das nicht eine Diskrepanz? Wissenschaftler nennen das Phänomen "Das Privacy-Paradox" und - soweit es die wissenschaftliche Welt betrifft - war ich zufällig die Erste, die es damals an der Humboldt-Universität zu Berlin nachgewiesen hat. Was ist die Geschichte dazu?

Rückgrat der Internetökonomie

Persönliche Daten sind - sorry für die Offenheit - immer noch das Rückgrat der Internetökonomie. Je mehr die Unternehmen davon bekommen können, desto besser für sie. Das ist übrigens auch der Grund weshalb wir dauernd nach Kundenkarten gefragt werden....Jedenfalls baute ich vor einigen Jahren einen Software-Agenten namens Luci, welcher Studierenden der Humboldt-Uni Kameras und Winterjacken online verkaufte und sie in diesem Kontext aufforderte, haufenweise persönliche Fragen zu ihrem Lebensstil zu beantworten. Zum Beispiel fragte Lucy, ob man eitel sei oder was man so mit den eigenen Fotos täte. Ob sie im Schuhkarton landeten, oder eingeklebt würden, usw. Ich war 100 Prozent überzeugt, dass die Leute solche Fragen nicht beantworten würden. Ich hatte sogar ein Formel entwickelt zur Berechnung der "Kosten der Privatsphäre", welche es nachzuweisen galt...

Keine Spur von Vorsicht

Aber: Pustekuchen! Die Studierenden LIEBTEN die Luci-Beratung. Sie erzählten ihr wirklich alles, egal wie intim die Frage auch war. Auf halbem Wege durch meine Experimentreihe realisierte ich, dass ich nicht die Daten bekommen würde, die ich suchte. So ging ich den drastischen Schritt, veränderte die Instruktion und gab dem Rest der Studierenden eine wirklich harte Datenschutzerklärung zum unterzeichnen. Mit dieser unterschrieben sie, dass alle ihre Daten, die Luci einsammeln würde, an einem anonymen Sponsor weitergereicht würden, dessen Namen wir nicht preisgeben könnten und der dann freie Hand hätte, damit zu tun, was ihm beliebt. Wow, ich war sicher, die Studierenden würden jetzt vorsichtiger werden. Zumal die meisten von ihnen im Vorfeld der Luciberatung in einem Fragebogens behauptet hatten, dass sie wirklich um ihre Privatsphäre besorgt seien. Aber auch diesmal: Keine Spur von Vorsicht. Alle Studenten liebten den Agenten weiterhin, beantworteten ihm alle Fragen und verließen zusammen mit einer mittelmäßigen Produktempfehlung zufrieden das Labor. Das Privacy-Paradox war entdeckt.

Was ist wichtiger: Unsere Einstellungen und Überzeugungen?

Was machen wir mit diesem Ergebnis? Lassen Sie mich eines fragen: Was ist wichtiger: Unsere Einstellungen und Überzeugungen? Oder unser tatsächliches Verhalten? Ist unser Sicht auf die Dinge, wie etwa unsere Einstellung zum Datenschutz und zur Privatsphäre, veraltet, nur weil wir es nicht schaffen, ihr immer gerecht zu werden? Oder sind wir wirklich in einer Zeit angekommen, in der die Privatsphäre ein veraltetes Konzept ist? Wenn wir es nicht schaffen, in dieser süchtig machenden Online-Welt unseren moralischen Standards gerecht zu werden, was sollen Regierungen dann tun? Ist es ihre Aufgabe uns vor uns selbst zu schützen?