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Bildet das heimliche Gravitationszentrum in Péter Nádas' ingeniösem Roman: Der Ungarnaufstand in den Oktobertagen 1956, als kurz der Widerstand gegen Moskau hochflackerte.

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Ein Triumph der Literatur über das dürre Faktenwissen.

Budapest/Wien - Das Auftauchen eines Körpers bildet den Auftakt von Parallelgeschichten: eines ziegeldicken Buches, in dem die Physis, das Leiden und Erleben des Körpers als Spiegelfläche für das psychische Geschehen einer Handvoll Menschen dient. Vereinzelte Schneeflocken treiben über die ausnehmend wohlgekleidete Leiche eines Unbekannten im Berliner Zoo. Der untersuchende Kommissar schlägt sich mit der Verstocktheit des Finders herum, eines maulfaulen Studenten mit reichlich düsterer Vergangenheit.

Niemand, noch nicht einmal der Ermittler selbst, wird sich im Verlauf der folgenden rund 1700 Buchseiten um die Identität des Toten sonderlich kümmern. Und doch führen die Nervenstränge von Péter Nádas' verstörendem Epochenroman mitten hinein ins Zentrum der Gewalt: Der Tote, so reimt es sich der Leser nach glücklichem Abschluss der Lektüre zusammen, dürfte ein ungarischer Kommunist sein, ein Dandy, abgesunken in die Anonymität einer unhaltbaren Existenz.

Doch noch gilt es, die Mühen der ungarischen Tiefebene zu bestehen. Denn sofort stürzt der Roman von 1989 zurück in das Jahr 1961: Ein Orkansturm tobt, die Feiern zum Nationalfeiertag werden wegen eines Kabelschadens in den Stromleitungen abgesagt. Den Menschen sitzen die Gräuel von 1956 in den Knochen. Alles dürfte besser sein, als sein Leben in Ungarn absitzen zu müssen, in Budapest, "wo die Welt endgültig abgestellt war wie das Wasser in einem tropfenden Hahn" .

Im gutbürgerlichen Hause Lippay-Lehr am Budapester Theresienring, das das Zentrum dieser Jahrhundertchronik in drei Bänden bildet, ist der Hausherr an Demenz erkrankt. Seine jüdische Ehefrau Erna wohnt mit ihrem Sohn Ágost und dessen elternlosem Cousin im Hausrat alter Herrschaftszeiten.

Gefäße der Erinnerung

Nádas gehört zu den großen Artisten der Vergegenwärtigung: Auf wenigen Seiten vermögen er (und seine Übersetzerin) die Architektur eines Gebäudes zu zeichnen und zugleich in die Waben des Bewusstseins einzudringen.

Die Fächer und Kavernen einer schier unerschöpflichen Empfindungsfähigkeit werden mit der Sprache aufgeschlossen: Ihre Schmiegsamkeit und Elastizität ist das eigentliche Wunder eines Romans, der sich dutzende oder auch hundert Seiten lang bei der, man muss es so sagen: Vertiefung einzelner Geschlechtsakte aufhält, dabei jede physiologische Regung auskostet und doch niemals zotig wird.

In Wahrheit aber erzählt Nádas das bis in die Gegenwart heraufreichende ungarische Unglück (Orbán!) als flackernden Auflösungsprozess. Auf verschlungene Weise sind es die ungarischen Juden, die das Personalreservoire dieses Buches bilden: Frauen, die während der Massaker durch die Pfeilkreuzler 1944 ihre Kinder verloren. Versehrte und Verwaiste, deren Väter verschleppt wurden. Aber es erscheinen auch Männer, deren joviale Arbeit für die KP nicht ahnen lässt, dass ihre Kinderseelen in den Zuchtanstalten der Nazi-Rassenkundler drangsaliert wurden.

Nichts bleibt unklarer als Nádas' Antwort auf die Frage, was denn einen "wahren Ungarn" im Kern ausmache. Durch das Buch stolpert ein Architekt aus Mohács: ein spröder Gefolgsmann der Bauhaus-Moderne, der sich ausgerechnet in jene Psychoanalytikerin verliebt, die ihn mit der Ausstattung ihrer Praxis beauftragt.

Alajos Madzar bildet die "heimliche" Personalreserve des Buches: Anstatt, wie geplant, den Aufbruch nach Amerika zu wagen, kehrt er heim nach Mohács, wo die Donau gelben Schlamm hochwälzt, in deren träger Flut aber auch ein jüdischer Bub verschwindet: Klein-Madzar und sein Jugendfreund bombardieren den Bedauernswerten so lange mit Steinen, bis er vom uferseitigen Baum ins Wasser hinunterkippt.

Lockeres Gespinst

Nicht allen gelingt die Übung des Verschwindens. Ohne Rücksicht auf die Verknüpfungsnotwendigkeiten seines Gespinstes lässt es Nádas vielfach bei Andeutungen bewenden: dem überraschenden Aufblitzen von Zusammenhängen, die sich aus der unverhofften Nähe scheinbar weit voneinander abgelegener Details ergeben.

Péter Nádas, dessen Roman 2005 in seiner Heimat erschien, malt ein lückenhaftes Gesellschaftsbild aus "Verlust- und Mangelgefühlen" . Die Geschichte, überhaupt alle sinngebenden Instanzen sind in dröhnendes Schweigen gehüllt. Schauplätze wie Mohács, der Ort der vernichtenden Niederlage gegen die Türken, werden als "gemütstot" beschrieben, den Figuren bleiben ihre Antriebsregungen weitestgehend unklar.

Somit sind auch alle Versuche einer planen Nacherzählung notwendig zum Scheitern verurteilt. Die eigentliche Sensation dieses völlig unvergleichlichen Romans besteht in der Absage an alle - auch literarischen - Gewissheiten. Zwanzig Jahre schrieb Nádas an diesem Abriss einer Gesellschaft, deren Angehörige die Möglichkeiten des Daseins erproben. Niemals, auch nicht in Momenten engster körperlicher Nähe, gelangen die einzelnen Teile zur Deckung: deshalb Parallelgeschichten. Aber man erfährt etwas von der Desperation der Geschichte - und wie die Gewaltförmigkeit der Gesellschaft die besten Anlagen der Individuen zunichte macht. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 2. März 2012)