Kijŏng-dong ist die moderne Variante eines potemkinschen Dorfes.

Foto: Fbjon/Wikimedia

Um Mitternacht mussten die österreichischen Internet Sevice Provider (ISPs) und Telefonie-Anbieter eine 180-Grad-Wende vollziehen: War die Speicherung zahlreicher personenbezogener Informationen bislang datenschutzrechtlich verboten, besteht jetzt eine Pflicht dazu. Die Vorratsdatenspeicherung (VDS) ist in Kraft getreten.

Diese Überwachungsmethode ist höchst umstritten. In verschiedenen Staaten wurde sie von den Verfassungsgerichten aufgehoben, weil sie dort verfassungswidrig war. In Österreich haben das Bundesland Kärnten und der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung unabhängig voneinander angekündigt, beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) ebenfalls einen Antrag auf Aufhebung zu stellen.

Die Argumente dafür sind zahlreich, werden doch unbescholtene Bürger unter Generalverdacht gestellt und überwacht, ihre Privatsphäre wird beeinträchtigt. Das könnte gleich mehrfach gegen Verfassungsrecht verstoßen.

Auswirkungen

Kaum ein verfassungsrechtlich gewährtes Recht ist absolut, gewisse Einschränkungen zugunsten anderer Rechte oder Ziele sind zulässig. Der Verfassungsgerichtshof muss dabei also abwägen. Verkürzt gesagt wird er untersuchen, ob die Beeinträchtigung von Rechten wie dem Recht auf Privatleben gegen mögliche Vorteile zu werten ist, etwa einen Gewinn an Sicherheit. Dieser Gewinn an Sicherheit ist jedoch viel geringer als gemeinhin angenommen.

Einerseits gibt es einen sofort eintretenden Verlust an Sicherheit, da auch vertrauliche Kommunikation kompromittiert wird. Für Whistleblower steigt das Risiko, enttarnt zu werde, erheblich, wenn sie Korruption und andere Straftaten aufdecken wollen.

Menschen in persönlich brenzligen Situationen werden sich nun oft scheuen, Unterstützung von Psychologen, Ärzten, Seelsorgern, Anwälten, Schwangerenberatungen, Sexualambluanzen oder von Einrichtungen wie der Aids-Hilfe, Suchtberatungen, dem Frauennotruf oder Schuldnerberatungen in Anspruch zu nehmen.

Teure Kulissen

Die Auswirkungen auf Gesundheit und Finanzen der Betroffenen und ihres Umfeldes sind schwer in Zahlen zu fassen. Die Anlaufkosten für österreichische Steuerzahler und Kunden der Netzbetreiber sollen etwa 20 Millionen Euro ausmachen.

Bei der Bekämpfung von Straftaten zeigt sich, dass Vorratsdaten die Aufklärungsrate nicht signifikant erhöhen. Dies geht aus Studien über einige europäische Staaten, die schon einige Jahre Erfahrung mit der Vorratsdatenspeicherung haben, hervor.

Sicherheitsgewinn ist unrealistisch

Kein Wunder: Die Vorratsdatenspeicherung lässt sich umgehen. Bei Mobilfunk und Festnetztelefonie ist das ein gewisser Aufwand, den Verbrecher aber nicht scheuen werden. Bei der Online-Kommunikation mit E-Mail, Chat und VoIP hingegen ist es frappierend einfach und spart vielleicht sogar Geld.

Professionelle Verbrecher, die angebliche Zielgruppe der Vorratsdatenspeicherung, wissen das. Sie werden die Überwachung daher ganz legal umgehen. Damit ist die Vorratsdatenspeicherung aber nur sehr bedingt dazu geeignet, ihr Ziel überhaupt zu erreichen.

Dies aber öffnet den Verfassungsrichtern einen von mehreren Wegen, die neuen Bestimmungen aufzuheben: Der Eingriff in die Privatsphäre kann nur schwer befürwortet werden, wenn der Eingriff zur Erreichung seines Ziels kaum geeignet ist.

Kritiker und Fans

Die Phalanx der Kritiker umfasst so unterschiedliche Gruppen wie die Freiheitlichen und die Grünen, Journalisten und Juristen, Ärzte und andere Sozialberufe, Datenschützer und einfache Bürger, die nichts zu verbergen haben.

Natürlich gibt es auch Unterstützer: Innenministerium und Teile der Polizei, Geheimdienste und Lieferanten der Überwachungstechnologie, SPÖ und ÖVP, Lobbyisten der Unterhaltungsindustrie und einfache Bürger, die glauben, nichts zu verbergen zu haben.

Die Unterhaltungsindustrie hofft, mit Hilfe der Vorratsdaten potenzielle Urheberrechts-Verletzer identifizieren zu können. Mit dem in der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erklärten Ziel, besonders schwere Verbrechen zu bekämpfen, hat das freilich nichts mehr zu tun. (Daniel AJ Sokolov, derStandard.at, 1.4.2012)