Politiker der vier etablierten deutschen Parteien und Kommentatoren der etablierten Medien übertreffen sich in diesen Tagen gegenseitig darin, dem EM-Kogastgeber Ukraine mit "ernsthaften Konsequenzen" zu drohen, wenn dieser die beliebte Politikerin Julia Timoschenko nicht nach Deutschland ausreisen lässt. Wir befinden uns nun einmal im Wahlkampf, und da scheint es hierzulande zur Normalität zu gehören, lautstark gegen andere Länder zu poltern und diplomatische Gepflogenheiten zu ignorieren. Doch die Empörung ist bei näherer Betrachtung nur Theaterdonner. Das Stück vom ukrainischen Schurken, seinem schönen Opfer und dem edlen Ritter aus Deutschland, ist einfach zu "schön", um es unerzählt zu lassen. Und da die Medien die schönsten politischen Theaterstücke ohnehin nicht hinterfragen, wird uns die absurde Tragödie vom bösen Ukrainer wohl noch mehrere Wochen begleiten - so lange, bis die EM vorbei ist und die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird.

Dass es weitaus angenehmere Orte auf der Welt gibt als ukrainische Haftanstalten, steht außer Frage. Amnesty International zählte in einem Jahr 165 Folter- und Misshandlungsvorwürfe gegen ukrainische Haftanstalten und beklagte die "Untätigkeit der Behörden", die keine adäquaten Ermittlungen durchführten. Amnesty International spricht auch davon, dass ukrainischen Häftlingen überlebenswichtige Medikamente vorenthalten würden - dies sei eine Folge der dramatischen Unterfinanzierung der Vollzugseinrichtungen und Gefängniskrankenhäuser.

Alle diese Vorwürfe stammen aus dem AI-Jahresbericht 2009, die Ministerpräsidentin, die damals für diese desolate Situation verantwortlich zeichnete, hieß Julia Timoschenko. Den Westen störte das damals nicht sonderlich. Weder von Angela Merkel noch von Guido Westerwelle sind kritische Statements überliefert, die Frau Timoschenko auffordern, die Haftbedingungen in ihrem Land im Namen der Menschenrechte zu verbessern. Es ist auch nicht überliefert, dass deutsche Politiker auch nur einen Hauch von Empörung äußerten, als Polen und die Ukraine im April 2007 von den Uefa-Delegierten den Zuschlag für die Ausrichtung der Fußball-EM 2012 erhielten. 2007 war die Menschenrechtslage in der Ukraine kein Jota besser als heute, und auch damals war das Land vor allem für sein durch und durch korruptes politisches System bekannt. Aber Korruption war und ist ja bekanntlich weder für Uefa und Fifa, noch für westliche Regierungen ein ernsthaftes Hindernis, wenn es um sportliche Großevents geht.

Wenn es die empörten deutschen Politiker mit ihrer Verquickung von Sport und Menschenrechten ernst nehmen würden, hätten sie in diesen Wochen eine wunderbare Gelegenheit dazu. Momentan laufen die Vorbereitungen für die EM-Vergabe 2020, und die Türkei gilt nicht nur als aussichtsreichster Kandidat, sondern ist bis dato auch der einzige Bewerber - schon in zwei Wochen läuft die Bewerbungsfrist ab. Deutschland hat kein Interesse, als Konkurrent in den Ring zu steigen. Das ist freilich "erstaunlich", ist es doch bekannt, dass die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen ebenfalls desaströs sind und sich dort mehrere hundert kurdische politische Häftlinge im unbefristeten Hungerstreik befinden. Aber die inhaftierten Kurden tragen sicher Schnurrbart und eignen sich schon allein wegen ihres orientalischen Äußeren wohl nicht so gut für eine PR-Kampagne wie die blonde Jeanne d'Arc der Orangen Revolution.

Der Prozess gegen Timoschenko sei, so wissen es deutsche Medien zu berichten, ganz eindeutig politisch motiviert, ihre Haft sei mit Folter gleichzusetzen. Doch diese Mischung aus einer Gauck-Rede und einem Hollywood-Blockbuster basiert ebenso wie die Schilderungen über Timoschenkos Haftbedingungen nahezu ausschließlich auf den Aussagen von Timoschenkos Anwälten und ihrem familiären Umfeld. Es ist natürlich deren gutes Recht, eine sehr subjektive Sichtweise zu haben - es ist jedoch die Pflicht der Medien, darauf hinzuweisen, dass die subjektiven Schilderungen einer Konfliktpartei kein objektives Bild liefern. So werden beispielsweise die Schilderungen des Timoschenko-Anwalts Sergej Wlasenko in der ansonsten so auf journalistische Akkuratesse bedachten FAZ zwischen den Zeilen als Fakt dargestellt - ganz ohne Konjunktiv und indirekte Rede.

Willkürjustiz?

Freilich ist jeder Mensch so lange als unschuldig anzusehen, bis ihm konkret eine Schuld bewiesen wurde - die Klage gegen Timoschenko ist aber keine "Willkürjustiz" (Zitat Kanzleramtsminister Pofalla). Sie basiert auf Ermittlung amerikanischer Anwaltskanzleien, wird parallel zum ukrainischen Verfahren auch in den USA geführt, und ein Gericht in New York hat im Februar eine Subpoena (Herausgabe prozessrelevanter Informationen mit Strafandrohung) gegen die ehemalige Ministerpräsidentin erwirkt. Die Vorwürfe gegen Timoschenko sind auch Gegenstand eines amerikanischen Verfahrens gegen die Schweizer Bank Credit Suisse, die Timoschenko bei der Geldwäsche der unterschlagenen Geldern geholfen haben soll. Pawel Lasarenko, der nicht nur Timoschenkos politischer Ziehvater, sondern auch ihr Geschäftspartner war, wurde wegen ähnlicher Vorwürfe bereits 2004 in den USA zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt. Wer das Verfahren gegen Julia Timoschenko als "rein politisch motiviert" betrachtet, unterschlägt sehr viele Indizien, die klar gegen das Bild der unschuldigen Jeanne d'Arc sprechen.

Und was die Boykottdrohungen betrifft: Ja, die Haftbedingungen in der Ukraine sind desaströs, und es gibt viele gute Gründe, diesbezüglich diplomatisch auf Kiew einzuwirken. Wenn die versammelte politische Prominenz dem ukrainischen Präsidenten Janukowitsch jedoch über die Medien ein Ultimatum stellt, das der internationalen Rechtspraxis zuwiderläuft (kein Land der Welt würde einen verurteilten Straftäter, gegen den weitere Verfahren anhängig sind, in ein Land ausreisen lassen, das die eigene Gerichtsbarkeit nicht anerkennt), so ist dies in höchstem Maße kontraproduktiv. Nun kann Janukowitsch, der schon öfters mit dem Gedanken spielte, die EU durch eine Ausweisung Timoschenkos zu besänftigen, die inhaftierte Politikerin nicht nach Deutschland überstellen, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. (Jens Berger, DER STANDARD, 2.5.2012)