In Leutnant Gustl hatte Arthur Schnitzler (1862-1931) den törichten Standesdünkel eines Würstchens in Montur zum Gegenstand eines inneren Monolog gemacht. Als er sich 1924 erneut der Durchleuchtung einer Durchschnittspsyche zuwandte, fiel die Wahl auf ein junges Frauenzimmer.

Fräulein Else ist mehr als nur die Variation auf das Modell der psychischen Selbstentblößung mit den zugespitzten Mitteln der Literatur. Else, die 19-jährige Tochter eines von seiner Spielsucht in den Untergang gedrängten Advokaten, verbringt sorglose Septembertage in den italienischen Alpen.

Da die Eltern in Wien unabkömmlich sind, erschöpfen sich Elses Interessen im Überschlagen der eigenen erotischen Möglichkeiten. Wie ein Ziervogel taxiert Else ihre Umgebung: den Cousin, der einer Rivalin den Hof macht; sie gewahrt die unruhigen Blicke der Hotelgäste, die ohne jeden Zweifel ihrem schönen Wuchs gelten.

Die Luft in den Bergen trinkt sich "wie Champagner": In solch moussierender Laune muss sich Else eher widerwillig eingestehen, dass die Lebensaussichten eines anständigen Mädchens ohne besondere Qualifikationen nicht berauschend sind. Die Welt bürgerlicher Wohlanständigkeit droht aber auch aus gewichtigeren Gründen zu zerbrechen: Ein Brief der Mutter stellt den völligen Ruin des " Mündelgelder" veruntreuenden Vaters in Aussicht. Else, das gute Kind, solle den in San Martino anwesenden Kunsthändler Dorsday um die Vorstreckung von 30.000 Gulden bitten, ansonsten der Vater binnen Tagen den schweren Gang ins Gefängnis anzutreten habe.

Elses nicht unkokette Werbung bei dem reifen Herrn von Dorsday zeitigt ein recht unerfreuliches Ergebnis. Der unbekümmert Angesprochene erklärt sich zur Gewährung der Summe bereit - allerdings einzig unter der Bedingung, dass Else sich ihm während einer geschlagenen Viertelstunde nackt zeige. Bürgersinn und Mädchenflausen verflüchtigen sich im Nu: Else versteht instinktiv, dass das Spiel des Begehrens die gewöhnlichen Regeln des Tauschgeschäfts außer Kraft setzt - gerade weil Dorsday verspricht, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen.

Von nun an gehen Elses Gedanken im Kreis herum: Chimäre bleibt für sie die sittliche Idee von der Selbstbestimmung der Frau, die ihre Partnerwahl aus angeblich "guten Gründen" trifft.

"Ein Luder will ich sein, aber nicht eine Dirne", denkt Else. Doch in ihrer aus lauter Verlogenheiten und Borniertheiten zusammengesetzten Lebenswelt ist kein Platz für Souveränität. Ehe Else überschnappt und im Musikzimmer des Hotels einen veritablen Skandal erregt, geht ihre Psyche auf Reisen. Peinigend eng ist das Korsett der symbolischen Ordnung, in die man Mädchen wie Else hineinzwängt. Ihre Vorstellungswelt bleibt auf die Vorwegnahme des Todes geeicht. Else trinkt gelöstes Veronal. Es scheint tatsächlich so, als ob nur die Schande sie überleben könnte. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 2.5.2012)