Der deutsche Bundespräsient Joachim Gauck hat beinahe beiläufig die Diskussion um den Islam in Europa auf eine neue, viel realistischere Diskussionsgrundlage gestellt. In einem Interview mit der Zeit wandelte er die Aussage seines Amtsvorgängers Christian Wulff - "Der Islam gehört zu Deutschland" - in dieser Form ab: "Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland."

Das trifft es in der Tat besser. Und zwar auf mehreren Ebenen. Wobei im Folgenden statt "Deutschland" immer "Europa" und damit auch "Österreich" mitzudenken ist. Auf der historischen-kulturellen Ebene ist Europa von drei ganz großen geistigen Strömungen geprägt: Die griechisch-römische Antike mit Individualismus, Rechtsstaat und Strukturierung des Staates; dem Christentum, das wiederum auf dem Judentum und dem Humanismus fußt - und der Aufklärung, auf die der moderne Säkularismus folgte.

Der Islam kommt in diesem Gedanken- und Wertegebäude zwar vor, aber nicht in bestimmender Form. Der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Muslime irrt, wenn er sagt, "das europäische Abendland steht ganz klar auch auf muslimisch-morgenländischen Beinen".

Selbstverständlich gab es eine Beeinflussung durch die arabisch-muslimische Wissenschaft, die der europäisch-christlichen überlegen war. Vor 1000 Jahren. Selbstverständlich war die gemeinsame Geschichte nicht nur die einer Abfolge von fürchterlichen Kriegen, die überwiegend auf den muslimisch-arabisch-türkischen Expansionsdrang zurückgehen; aber in der Mehrzahl doch.

Selbstverständlich gibt es in Teilen des Balkans (Griechenland, Bosnien) eine Prägung durch den Islam als Religion der osmanischen Besatzungsmacht. Aber historisch - historisch! - war das eher ein Rezept für Rückständigkeit. Gauck, ursprünglich protestantischer Pfarrer, fragt denn auch in diesem Interview: "Wo hat denn der Islam dieses Europa geprägt, hat er die Aufklärung erlebt, gar eine Reformation?" Die waren die Voraussetzung für die Moderne.

Und damit lösen wir uns vorläufig von der historisch-kulturellen Betrachtung.

Was Gauck nämlich zur aktuellen Situation sagt, ist ja nur realistisch: "Die Absicht (Wulffs) war zu sagen: Leute, bitte einmal tief durchatmen und sich der Wirklichkeit öffnen. Und die Wirklichkeit ist, dass in diesem Lande viele Muslime leben".

Dieser Wirklichkeit müssen sich auch in Österreich noch viele stellen. Nur müssen sich auch die Muslime in Europa, in Deutschland, Österreich einer Wirklichkeit stellen: Europa ist nicht (mehr) religiös geprägt. Die Zeiten der absoluten Dominanz der Religion, einer Religion sind vorbei. Europa hat christliche Wurzeln, aber seine gesellschaftliche Verfassung ist säkular-pluralistisch.

Das ist offenbar ein Problem für jene Muslime, die den Islam als allumfassende Anweisung für das ganze Leben betrachten. Aber es ist so. Die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland, Österreich Europa. "Der Islam" mit totalitärem Anspruch gehört nicht dazu. (DER STANDARD, 2.6.2012)