Einen unerwarteten und seltenen juristischen Sieg kann der in Sibirien inhaftierte ehemalige Ölmilliardär Michail Chodorkowski verbuchen. Das Oberste Gericht Russlands hat nicht nur eine Überprüfung der umstrittenen Urteile angeordnet, sondern ist in seiner Begründung sogar den Argumenten der Verteidigung gefolgt.

Laut dem Obersten Richter müsse überprüft werden, ob Chodorkowski und sein Geschäftspartner Platon Lebedew nicht wegen ein und desselben Verbrechens zweimal verurteilt wurden. Chodorkowskis Anwälten und Beobachtern der beiden Prozesse war schon immer komisch vorgekommen, dass es möglich ist, einerseits Steuern auf Ölverkäufe zu hinterziehen und andererseits ebendieses Öl zu stehlen.

Die Hoffnung auf eine frühzeitige Haftentlassung ist jedoch verfrüht. Die Anwälte des Inhaftierten zeigten sich nicht umsonst besorgt, dass die Überprüfung an das Moskauer Stadtgericht delegiert wurde. Dieses ist bekannt dafür, sämtliche Urteile von oben einfach abzusegnen.

Anscheinend soll davon abgelenkt werden, dass das System derzeit versucht, sich viel gefährlicherer Gegner zu entledigen. Im Gegensatz zum unbeliebten Oligarchen können der eben angeklagte Antikorruptionskämpfer Alexander Nawalny und die derzeit vor Gericht stehenden Aktivistinnen von Pussy Riot mit den Sympathien des immer unzufriedeneren Mittelstandes rechnen. (Verena Diethelm, DER STANDARD, 2.8.2012)