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Brillanter Intelektueller, politischer Zauderer, Opfer eines knallharten Diktators, skrupelloser Machtpolitiker: Nicht jede Biografie fängt den Facettenreichtum Leot Trotzkis adäquat ein

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Lew Dawidowitsch Bronstein, der unter dem Nom de Guerre Leo Trotzki (1879-1940) weltberühmt wurde, war eine schillernde Figur: brillanter Intellektueller, politischer Zauderer, Opfer eines skrupellosen Diktators und knallharter Machtpolitiker, der keine Skrupel hatte, Gewalt anzuwenden, wenn es der Revolution diente. Für alle diese Facetten - und einige mehr - lassen sich im Leben und Werk des Berufsrevolutionärs Belege finden.

Die Trotzki-Biografie des in Oxford lehrenden Historikers Robert Service geriet schon vor ihrer Übersetzung ins Deutsche ins Gerede. Der amerikanische Historiker und bekennende Trotzkist David North sieht in ihr nur "Geschichtsfälschung" sowie eine Neuauflage stalinistischer Hetze und Verleumdung. Namhafte deutsche Sozialwissenschafter intervenierten schließlich beim Verlag und empfahlen der Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz, das Buch nicht übersetzen zu lassen. Neben sachlichen Fehlern warfen die Autoren der Trotzki-Biografie eine antisemitische Grundierung vor.

Der Verlag ließ das Buch begutachten und die Übersetzung überprüfen. Die jetzt vorliegende Version des Buches ist weder eine Schmähschrift, noch enthält sie auch nur den Anschein von antisemitischen Zügen. Zu retten ist die Trotzki-Biografie trotzdem nicht. Und das liegt nicht an den stehengebliebenen Fehlern (Verwechslung von Berlin und Hamburg, Unklarheiten in den Verwandtschaftsverhältnissen, Juli-an Borchardt soll im Jahr 1914 gegen die Kriegskredite gestimmt haben - er gehörte dem Reichstag gar nicht an, war aber ein profilierter Kriegsgegner) und Fehleinschätzungen (Ferdinand Lassalle wird ebenso als "Marxist" bezeichnet wie Eduard Bernstein, Victor Adlers Berufsbezeichnung wird mit jener Alfred Adlers verwechselt).

Der Hauptmangel der Trotzki-Biografie ist seine methodisch bedingte Verengung der Perspektive.

Service kämpft sich durch einen Berg von biografischem Material und verzichtet fast vollständig darauf, diesen biografischen Rohstoff sozialgeschichtlich und politisch einzuordnen.

Diese perspektivische Verengung ist wahrscheinlich auch dem Umstand geschuldet, dass Service sich fast ausschließlich auf die Nachlässe in den Hoover Institution Archives (Stanford) sowie Trotzkis Schriften gestützt hat und die reiche sozial- und politikgeschichtliche Forschung der letzten dreißig Jahre fast vollständig ausblendet. Die Trotzki-Biografie von Service entspricht nach ihrem methodischen und intellektuellen Zuschnitt der Privatgelehrtenprosa in der Geschichtswissenschaft des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts und nicht dem, was man heute von einer Biografie verlangt.

So erfährt der Leser so gut wie nichts über die enormen ökonomischen, sozialen und politischen Probleme, mit denen sich die Revolutionäre in Russland im Jahr 1917 konfrontiert sahen. Service berichtet detailliert von den Verhandlungen über den Diktatfrieden von Brest-Litowsk, bei denen Trotzki eine wichtige Rolle spielte. Doch die Bedingungen und die kurz- und lang fristigen Folgen des brutalen Diktats der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn für Russland erwähnt Service mit keinem Wort.

Das Land verlor 34 Prozent seiner Bevölkerung, 54 Prozent seiner Industrie, 89 Prozent seiner Kohlelager sowie die gesamte Öl- und Baumwollindustrie. Weder der "Kriegskommunismus" (Verstaatlichung, Abgabezwang für Bauern) noch der Bürgerkrieg oder die "Neue ökonomische Politik", d. h. die halbherzige Rückkehr zur Marktwirtschaft, sind jedoch zu verstehen, wenn die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen einfach ausgeblendet werden.

Bei Service erscheinen die Oktoberrevolution und die nachfolgenden Konflikte als eine Reihe von persönlichen Intrigen unter Egomanen, von denen Lenin der schlaueste, Stalin der brutal- ste und Trotzki der egozentrischste war. Selbst wenn solche Zuschreibungen nicht völlig von der Hand zu weisen sind, sie bleiben Zuschreibungen von recht bescheidener Aussagekraft ("Einen Großteil seiner Zeit verbrachte er mit Diskutieren, weniger mit Denken"). Statt sachhaltiger Erklärungen liefert Service über weite Strecken nur küchenpsychologische Erkenntnisse und Spekulationen: "Der neue Lebenswandel brachte Trotzki dazu, eine Entscheidung über seine persönliche Identität zu treffen." Das Buch strotzt nur so vor psychologisierenden Plattitüden in der Preislage von "Trotzki hielt Lenin für zwanghaft" oder Trotzki "war ein Dauer-Revolutionär, aber nie ein Vollzeitpolitiker".

Drohung mit Gewalt

Wo sich Service auf Wertungen einlässt, bleiben seine Urteile oberflächlich. Trotzkis bedenkenloser Umgang mit Terror und - vermeintlich wie wirklich - revolutionärer Gewalt ist ebenso hinlänglich bekannt wie derjenige Lenins, der 1920 an Efraim Sklianski schrieb: "Ergreife militärische Maßnahmen, d. h. versuche Lettland und Estland auf militärische Weise zu strafen, zum Beispiel durch (...) Überschreiten von Grenzen und Erhängen von 100 bis 1000 ihrer Bürokraten und Reichen."

Solchen Devisen folgte auch Trotzki bei der Niederschlagung des Aufstands der Matrosen in Kronstadt (1921) und in seinem Amt als Volkskommissar für militärische Angelegenheiten (Kriegskommissar) im Bürgerkrieg. Auch im Hintergrund von Trotzkis Kampagnen für die "Militarisierung der Arbeit" oder für einen "sozialistischen Militarismus" stand immer die Drohung mit Gewalt und Terror ("Wir werden die Leute zur Arbeit zwingen").

Daraus folgt aber nicht, dass Trotzkis Forderungen nach einer Demokratisierung der Partei und der Politik sowie seine Opposition gegen Stalin nur taktischer Natur gewesen seien, wie Service gleich mehrfach unterstellt.

Geradezu hämisch ist die Darstellung des Intellektuellen Trotzki. Dessen Buch Literatur und Revolution (1923) ist nicht frei von hybriden Spekulationen über den "neuen Menschen".

Aber Service begnügt sich nicht damit, solche Passagen kritisch zu kommentieren. Er behauptet dar über hinaus, und ohne jegliche Belege dafür beizubringen, Trotzkis Buch habe "die Fundamente des kulturellen Stalinismus" geschaffen. Das ist so grotesk wie der Vorwurf, Trotzki habe die Avantgardisten Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam und Boris Pasternak in seinem Buch nicht erwähnt. Alle drei um 1890 geborenen Autoren hatten 1923 - als Trotzkis Buch erschien - erst ganz wenig oder nichts publiziert. Dieser Vorwurf geht also schlicht ins Leere. Die Bezeichnung Alexander Bloks, dem Trotzki ein eigenes Kapitel widmet, als "unbedeutender Dichterling" fällt auf Service selbst zurück.

Die Biografie enttäuscht über weite Strecken. Sie wird der schillernden Figur Trotzkis ebenso wenig gerecht wie den wissenschaftlichen Ansprüchen, die man an eine solche Biografie stellen muss. Immerhin eine Einsicht ist dem Buch zu gutezuhalten. Es widerlegt die Legende vom "Eispickel", mit dem Trotzki am 20. 8. 1940 von einem Agenten in Stalins Diensten ermordet wurde. Es war kein Eispickel, sondern eine handliche Eisaxt, mit der Barkeeper damals Eisbrocken zerkleinerten. (DER STANDARD, 1./2.8.2012)