Ein spannender Augenblick der diesjährigen Finanzmarktgespräche in Alpbach war der Vortrag von Erste-Group-Chef Andreas Treichl, wo er die Entwicklung der Renditen der Staatsanleihen in der Eurozone von 1995 bis 2011 zeigte. Ein vergleichbarer Chart wie in dieser etwas älteren Präsentation (auf Seite 2) erzählt die Geschichte gut:

1995 lagen griechische Zinsen bei 20 Prozent und spanische, italienische und portugiesische bei bis zu 8 Prozent, die deutschen bei etwa 2 Prozent. Bis 1999/2000 näherten sich die Renditen immer weiter an und lagen dann acht Jahre lang  ganz eng beieinander. Die Märkte taten so, als ob die Schulden der Südländer um keine Spur riskanter wären als die von Deutschland, Österreich oder den Niederlanden. Ab 2008 gingen die Spreads wieder rasant auseinander und liegen nun etwa dort, wo sie 1995 waren.

Für Treichl lag in diesem knappen Jahrzehnt die Wurzel alles Übels. Die viel zu niedrigen Zinsen führten zu massiven Fehlinvestitionen in Südeuropa und einer privaten und öffentlichen Überschuldung, die nun die Eurozone zu vernichten droht oder uns zumindest sehr, sehr viel kosten wird. Der US-Ökonom William White, der früher an der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich arbeitete und jetzt in der OECD tätig ist, sprach in Alpbach vom „größten Marktversagen aller Zeiten“.

Zwei Lehren kann ich aus dieser Geschichte ziehen:

Erstens wurden bei allen Studien über die Finanzkrise und ihre Ursachen die Gründe für dieses Fehlverhalten der Finanzmärkte bisher nirgendwo richtig erklärt und nicht einmal ernsthaft untersucht. Wie könnten sich tausende hochbezahlte Banker, Analysten, Fondsmanager und Ökonomen an diesem Irrsinn, der der Immobilienblase in den USA gleichkommt oder sie sogar noch übertrifft beteiligen? Warum hat niemand geschrien oder zumindest dagegen spekuliert? Was kann man daraus über die kollektive Intelligenz der Märkte schließen?

Sie alle haben, wie White ausführte, den Wegfall des Währungsrisikos mit dem Wegfall des Insolvenzrisikos gleichgesetzt.  Ein solcher Trugschluss aber setzt schon ein hohes Ausmaß an Blindheit voraus.

Wahrscheinlich war es der Herdentrieb, der hier in die Irre führte. Jahrelang hatten die Märkte auf die Konvergenz gesetzt und dabei blendend verdient. Und dieses Stück lief einfach in ihren Köpfen weiter, bis mit dem Lehman-Kollaps und den Bankenkrisen 2008 der Vorhang plötzlich fiel.

Es greift aber zu kurz, nur den Märkten die Schuld zuzuschieben. Schließlich entsprach das, was geschah, genau den Wünschen der europäischen Politik. Man kann den Finanzmärkten den Vorwurf machen, dass sie die politischen Visionen unkritisch übernommen und sich von der Politik haben gängeln lassen.

Damals wäre es wünschenswert gewesen, wenn nicht die Politiker, sondern die Märkte mehr am Steuer gesessen wären. Umso weniger angebracht ist das jetzige Wehklagen so vieler Kommentatoren, dass die Märkte die Politik bestimmen.

Die zweite Erkenntnis ist noch allgemeiner:

Nicht in der Krise, sondern in der Zeit der selbstgefälligen Ruhe werden die großen Gefahren geboren – so etwa in den Jahren von 2002 bis 2008. Die heutige Schuldenkrise ist im Gegensatz dazu eine Zeit, in der gegengesteuert, reformiert und vieles verbessert wird. Das ist ein gutes Zeichen: Jetzt müssen wir uns bei allen schlechten Schlagzeilen weniger vor der Zukunft fürchten als damals, als sich jeder in trügerischer Sicherheit wog.

Wenn es gelingt, sich dieses grundsätzlichen Trugschlusses bewusst zu werden und dieses Wissen zu behalten, wenn sich die Wogen wieder glätten, dann können Europa, die USA und die anderen großen wirtschaftlichen Weltzentren die nächste Krise vielleicht vermeiden.