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Ausweitung der Kampfzone im Internet: "Jeder von uns sitzt in seiner Blase, total vernetzt und dennoch allein", sagt Žižek.

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Slavoj Žižek - philosophischer Querdenker und anarchischer Poltergeist: "Nur das Internet kann uns vom Internet erlösen!"

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Seinem offiziellen Lebenslauf zufolge hat Slavoj Žižek im heimatlichen Ljubljana Soziologie studiert, in Philosophie promoviert, dann in Paris Lacans Psychoanalyse studiert, und seither unterrichtet er Philosophie und Kulturwissenschaften.

Doch das charakterisiert ihn nur sehr ungenügend. Zizek ist einer der umtriebigsten, bewundertsten und umstrittensten öffentlichen Intellektuellen der Gegenwart. Unter systematischer Missachtung akademischer oder sonstiger Grenzen schreibt er über Politik, Sexualität, Hegel, Hitchcock, die Occupy-Bewegung. Es gibt kaum ein Thema, das er auslassen und zu dem ihm nicht etwas Kontroverses einfallen würde. Insbesondere in der angelsächsischen Diskussionswelt mischt er erfolgreich mit. Als marxistischer Poltergeist wird er von manchen wahrgenommen, aber auch als Erneuerer der tiefenpsychologischen Theorie und als dringend notwendiger Querdenker in den Kulturwissenschaften. Den einen ist er zu dogmatisch, den anderen zu anarchisch, "also mache ich wohl etwas richtig". 

Am 9. Oktober kommt Žižek zum future.talk der Telekom Austria nach Wien geflogen, aus New York, wo er an der NYU eine Gastprofessur hat ("zu meinen Bedingungen: Ich unterrichte mit einer Professorin, und sie muss die ganze Arbeit machen, die Sprechstunden, die Noten; ich komme nur zu Vorträgen"). In Slowenien lebt er "ungefähr 40 Prozent der Zeit, als Privatperson", ansonsten reist er und hält sich zeitweise in London auf, in New York und Princeton und für ein zwei Wochen im Jahr an der European Graduate School in Leuk in der Schweiz: "Das ist Wahnsinn, wir müssen alles improvisieren. Ich fahre hauptsächlich hin, weil ich dort gute Kollegen und Freunde treffe." Zuletzt erschienen von ihm "Totalitarismus - Fünf Interventionen zum Ge- oder Missbrauch eines Begriffs" und "Less Than Nothing. Hegel and the shadow of dialectical materialism".

STANDARD: Es heißt, dass man im Netz immer mehr seinen eigenen Meinungen begegnet, dass man in einem Echoraum sitzt. Sehen Sie das auch so, und ist es ein Problem?

Žižek: Diesen Echo-Effekt gibt es nicht nur, was die Inhalte anbelangt; dass man nämlich findet, wonach man sucht und was man schon weiß, dass es also anders ist als eine Zeitung, von der man sich immer noch überraschen lassen kann. In den Echoräumen des Netzes gibt es keine Überraschungen mehr, das ist offensichtlich.

Da ist aber auch etwas Interessanteres und potenziell Gefährliches: Ich denke, dass die Grenze, die das Private vom Öffentlichen trennt, sich verschiebt. Was sich durch unsere Verbindung mit Google, mit dem Internet, dem Web insgesamt herauskristallisiert, ist ein neuer Raum, der öffentlich scheint, aber auf seine Art doch privat bleibt.

Nehmen wir den Fall von Obszönitäten. Wenn Menschen in den Sex-Chatrooms ihre Nacktheit oder sexuelle Akte herzeigen, dann erleben sie das meiner Ansicht nach nicht als altmodischen Exhibitionismus. Vielmehr glauben die Akteure eher, dass sie allein in ihrer Privatsphäre sind, nicht im öffentlichen Raum. Die Leute klagen darüber, dass heute, umgeben von all den Bewachungskameras und so weiter, die Privatsphäre verschwindet. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall: Der öffentliche Raum verschwindet. 

Mir hat beispielsweise ein Freund die folgende schreckliche Geschichte aus einer Stadt in China berichtet: Eine alte Frau wollte aus dem Bus aussteigen, fiel hin und brach sich das Bein. Ein junger Mann eilte ihr zur Hilfe, brachte sie ins Spital, gab ihr sogar Geld. Daraufhin verklagte sie, auf Anraten ihrer Verwandten, den Mann mit dem Argument, so eine Hilfe sei unnatürlich, und das könne der Mann nur gemacht haben, nachdem er sie hinuntergestoßen hatte und sich daraufhin schuldig fühlte. Und der Richter gab ihr Recht! Er sagte in einer fast kafkaesken Wendung der Dinge, dass ein normaler Mensch einer alten Frau nicht helfen würde.

STANDARD: Das ist schrecklich. Aber wie bezieht es sich auf öffentlichen und privaten Raum?

Žižek: Es geht darum, dass man sich eben nicht mehr in der Öffentlichkeit befindet, in der man anderen noch helfen würde. Sogar in einer Menge ist man inzwischen privat und hat sich daher nicht um den Nächsten zu kümmern. Sie haben in China übrigens eine Umfrage gemacht, was Leute tun würden, wenn sie einen verwundeten Menschen sehen - ob sie ihm helfen würden. 80 Prozent sagten Nein.

Ein anderes Beispiel: Freunde haben mir erzählt, dass die neuste Mode im Internet offenbar öffentlicher Sex ist - es scheint in Ungarn besonders beliebt zu sein. Ich habe mir das im Netz angeschaut und bin auf Unglaubliches gestoßen. Es wird eine Kamera auf einem öffentlichen Platz aufgestellt, auf einem Markt, in einem Bus, einem Zug. Dann zieht sich ein Paar aus und fängt an zu kopulieren. Und nach einem kurzen Moment der Überraschung tun die Leute in der Umgebung so, als würden sie das ignorieren - als ob das die Privatangelegenheit des Paares wäre, die sie nichts anginge. Ich moralisiere nicht. Ich sage nur, dass wir uns immer weniger in der sogenannten Öffentlichkeit bewegen. 

Zu Hause, vor dem Monitor, kann man zwar mit der ganzen Welt kommunizieren. Aber die Welt ist nicht da. Man ist immer noch allein. Ich nenne das solipsistischen Kollektivismus. Eli Pariser, der auch in Wien sprechen wird, hat das den Bubble-Effekt genannt. Das sehe ich auch so. Jeder von uns sitzt in seiner Blase, total vernetzt und dennoch allein.

So kommen wir auch zum Rätsel des Cybersex. Der hat immer mehr eine masturbatorische Struktur in dem Sinn, dass man nicht nur keinen wirklichen Partner hat - er beeinflusst auch unseren wirklichen Sex mit wirklichen Partnern. Man braucht diese immer weniger, wenn man seine Fantasien ausleben will.

Fällt Ihnen nicht etwas auf, wenn Sie sich das Tiefste der gegenwärtigen Populärkultur ansehen?

STANDARD: Was meinen Sie konkret?

Žižek: Ich meine zum Beispiel den neuesten James-Bond-Film, "A Quantum of Solace" ("Ein Quantum Trost"). Früher war es üblich, dass Bond in der letzten Szene zum Sex übergeht. In diesem Film nicht. Oder nehmen Sie Romane von Dan Brown, "Angels and Demons" ("Illuminati") oder andere. Da gibt es Paare, aber sie haben auch keinen Sex. Etwas sehr Merkwürdiges passiert hier, mein Freund Alain Badiou (französischer Philosoph und Schriftsteller, Anm.) hat es wunderbar ausgedrückt, aber es funktioniert auf Französisch und Englisch besser als auf Deutsch. Er verweist auf den Ausdruck "falling in love" bzw. "tomber en amour". Hier ist das Moment des Risikos, des Fallens enthalten.

Nun gibt es amerikanische Dating- und Heiratsagenturen, die mit dem Argument werben, dass das viel zu riskant sei: "Who can afford today to fall, even in love? We enable you to find yourself in love without the fall!" Also Liebe, ohne einen Sturz zu riskieren. In Wirklichkeit also ohne eine traumatische Begegnung mit dem anderen. 

Das ist dieselbe Tendenz wie bei James Bond. Es gibt heute eine extrem narzisstische, solipsistische Ökonomie, in der die Gefahr, die vermieden wird, genau das ist, was Liebe so schön macht: der Schock, du siehst jemanden, du fällst, dein Leben ist ruiniert. Heute will man verliebt sein, aber nicht seine Blase verlassen müssen. 

Es geht nicht mehr um die alte patriarchalische Ideologie, die auf Liebe und Treue insistiert, sondern fast um das Gegenteil. Liebe wird zum Problem. Die Ideologie sagt uns heute auf diese buddhistische Art: Engagiere dich nicht zu sehr, halte Abstand, hänge an nichts und niemandem. Ein One-Night-Stand ist okay, aber kein Sturz, keine dramatische Begegnung, die dein Leben verändert.

STANDARD: Wir hatten ja vom Netz gesprochen ...

Žižek: Ja, ich habe das nicht vergessen. Ich weiß, dass man Telefone heute für politische Mobilisierung und so weiter verwenden kann. Aber dennoch, der überwiegende Effekt ist die Bubble, die Blase, sogar wenn man mit anderen kommuniziert. Das halte ich für eine gefährliche Tendenz.

Aber noch etwas: Da geht es nicht um einen, wie soll ich sagen, technologischen Determinismus, um eine Notwendigkeit. Für mich - und da mag ich wie ein altmodischer Marxist klingen - ist das Netz doch auch ein großer offener Kampfplatz. Er kann sich in verschiedene Richtungen auswirken. Es ist ein Klassenkampf in dem Sinn, dass das Internet nicht auf diese solipsistische Weise funktionieren muss. Es wird nur hauptsächlich so gebraucht. Was man aber wissen muss: Zugleich wird es immer kollektiver.

Alle reden heute von der Cloud. Das klingt wunderbar. Man hat nicht mehr eine Schachtel voller Daten zu Hause, sondern alles wird irgendwo im Himmel verstaut, also eigentlich in großen Servern. Eine gute Analyse - nicht von einem paranoiden Linken, sondern von liberalen Amerikanern - kommt zu dem Schluss, dass wir immer mehr manipuliert werden. So hat Apple zum Beispiel einen Deal mit Murdoch (das heißt, mit dem Medienkonzern News Corporation, Anm.), der dem Unternehmen alle Nachrichten liefert, die es verbreitet. Und man glaubt immer noch, man habe die ganze Welt im Netz zur Verfügung!

Kürzlich war auch zu lesen, dass in den E-Books immer mehr Änderungen vorgenommen werden. Die Unternehmen sagen, es gehe um Genauigkeit und Korrektheit. In China soll das schon viel verbreiteter sein. Mit anderen Worten, dieses Minimum an Sicherheit geht verloren. Wenn ich ein gedrucktes Buch vor mir habe, dann kann niemand etwas darin ändern. Aber wer besitzt diesen privaten Bereich des Buchlesens, wenn der Text geändert werden kann?!

Doch ich bin ja nicht nur pessimistisch. Es ist zugleich wunderbar, dass man alles auf Knopfdruck parat hat und so weiter und so fort. Das Problem bleibt dennoch, wie man Manipulationen verhindern und das System offen halten kann.

Ich meine, es gibt genügend Phänomene, die zeigen, dass der von Ihnen erwähnte Echoraum wirklich wirksam ist und uns daran hindert, neue Erfahrungen zu machen. Warum kaufe ich ungern bei Amazon ein - obwohl ich es immer wieder tue? Weil ich nicht nur bekomme, was ich bestellt habe, sondern auch Tipps, die mit einem Programm auf meine Bedürfnisse maßgeschneidert sind. Was fehlt, ist, was ich vorher das "falling" genannt habe, die Überraschung, die Konfrontation. Deswegen mag ich Buchgeschäfte. Das mag romantisch klingen, aber da kann man sich umschauen ...

STANDARD: ... und man sieht etwas, von dem man noch nie gehört hat.

Žižek: Ja! Und oft habe ich Bücher, die für mich eine Entdeckung darstellten, auf diese Weise gefunden. Das ist für mich das Paradoxe. Als Philosoph interessiert mich diese solipsistische Struktur, die total offen ist und zugleich privat. 

Politisch korrekte Leute kritisieren heute gerne den "Kanon" der Bücher, die man kennen soll. Die sagen, das sei halt ein westlicher Kanon, Shakespeare, Goethe und so weiter ...

STANDARD: Tote weiße Männer.

Žižek: ... ja. Aber ich sage, wir brauchen Kanons. Ohne sie, glaubt man, sei alles gleich offen. Aber in Wirklichkeit steckt man ohne sie viel mehr im Solipsismus. Die Kanons sind für mich ein gutes Beispiel für einen offenen, öffentlichen Raum. Sind sie zu sehr am westlichen Imperialismus orientiert? Okay, dann ändern wir sie. Aber wir brauchen sie.

Das erinnert mich wiederum an einen Text, den ich einmal schreiben wollte, über Klischees. Wissen Sie, Samuel Goldwyn, der verrückte alte Produzent (das "G" in MGM, Anm.), war für seine sogenannten Goldwynismen bekannt. Einer geht so: Er wurde dafür kritisiert, dass er zu viele alte Klischees in seinen Filmen verwenden würde. Darauf hat er ein Memo an seine Szenario-Abteilung geschrieben: "Wir brauchen neue Klischees!" Und er hat völlig recht gehabt. Ohne Klischees, ohne gemeinsamen Raum, auf den man sich verlassen kann, gibt es keine Öffentlichkeit. Die neue Art von Subjektivität, die sich im Netz breitmacht, sehe ich also als Gefahr.

Noch etwas: Ich habe mit Schrecken gelesen, dass inzwischen von jedem Menschen so sehr erwartet wird, dass er ein Facebook- oder ähnliches Profil hat, dass amerikanische Firmen andernfalls davon ausgehen, dass es sich um ein isoliertes Individuum handeln müsse. Ich halte aber solche Profile für eine Zeitverschwendung.

Okay, das Problem ist, dass drei oder vier andere Menschen im Internet als "Slavoj Žižek" auftreten - ich bin nur zu faul, sie zu verklagen. Aber es ist peinlich.

Auch Facebook ist kein wirklich öffentlicher Raum, er ist es nur als privatisierter. Und das ist das Neue, das zurzeit passiert: Du bist in einer großen Gruppe, aber du bist allein.

STANDARD: Ich hätte noch ein paar Fragen, aber ich weiß nicht, wie viel Zeit wir noch haben.

Žižek: Ich habe Zeit. Ich rede zu viel, und Sie müssen mein Zensor sein, in guter stalinistischer Manier.

STANDARD: Okay, machen wir. Was bedeutet die von Ihnen skizzierte Entwicklung im Netz für politisch dissidente Bewegungen?

Žižek: Wissen Sie, was das Problem ist? Das Netz macht es leichter möglich, ein falsches Gefühl von Freiheit zu bekommen. Man kann ja vorgeben, alles Mögliche zu sein.

STANDARD: Die Psychologin Sherry Turkle hat darüber vor vielen Jahren schon geforscht, und sie war von den Möglichkeiten verschiedener Identitäten sehr begeistert.

Žižek: Ich kenne sie. Ihr erstes Buch war über Jacques Lacan. Seither hat sie sich immer mehr für Technologie interessiert. Worüber sie schreibt, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie ein befreiendes Potenzial sich mit seinem Gegenteil vermischt. Denn man bekommt einen gewissen Sinn für Freiheit: Man kann vorgeben, irgendwer zu sein. Aber gleichzeitig ist das ein falsches Gefühl.

Um es präziser auszudrücken: Ich spiele nicht den klassischen Humanisten, der sagen würde, man lebe hier sein wahres Selbst aus. Vielmehr ist es so: Wenn man sagt, man schlüpft jetzt in eine "Persona", eine Rolle oder Maske, also eine Fiktion, dann ist man oft näher an seiner eigentlichen Identität als in der "normalen", öffentlichen Rolle. Jacques Lacan hat dazu einen wunderbaren Satz: Die Wahrheit hat die Struktur einer Fiktion.

Cyberspace ist ein wunderbares Beispiel dafür. Sagen wir: Im wirklichen Leben bin ich ein alter Feigling. Aber ich nehme die Rolle einer Cyberspace-Person an, ...

STANDARD: ... die ein junger Held ist ...

Žižek: ... oder, schlimmer, ein aggressiver Kerl, der vergewaltigt, umbringt und so weiter. Und das sind dann seine wahren Wünsche. Es funktioniert nicht gemäß der kritisch-marxistischen Lesart, dass man ein schwacher Mensch ist und diesem Zustand entfliehen will. Man ist wirklich ein Vergewaltiger und Killer, und man kann das im Netz stellvertretend ausleben, weil man sich sagen kann, das sei ja nur Fiktion und man müsse das nicht ernst nehmen.

STANDARD: Nur wird es manchmal ernst, und dann hat man Serienmörder.

Žižek: Genau. Ich frage mich in diesem Zusammenhang, warum die Reality-TV-Shows so langweilig sind, dieser ganze Bullshit, Big Brother und derlei. Ich wollte sie mir ansehen und war sofort total gelangweilt. Ich denke, naja, es fängt mal damit an, dass die meisten Leute, auch ich, die meiste Zeit dumm und langweilig sind. Warum sollte uns jemand zehn Stunden lang zuschauen? Aber es ist ja so: Sogar wenn wir wir selbst sind, spielen wir eine Rolle, die von "uns selbst".

Wir sind Schauspieler im wirklichen Leben; nicht in einem paranoiden Sinn, sondern in diesem Sinn: Was tut man, wenn man spontan sein will? Die Psychoanalyse und jede gute Psychologie lehren uns, dass wir eine bestimmte Idee von uns selbst haben, dass wir uns selbst vorstellen und dann diese Rolle spielen. Das ist sehr befreiend, diesen Teil, diese Rolle ("this part") mag ich. Das ist die Internet-Erfahrung.

STANDARD: Und was hat das mit den Reality-Shows zu tun?

Žižek: Ah, also das Folgende: Die Idee hinter "Big Brother" ist - und das ist das Einzige, das mich interessiert -, dass man zehn Leute in eine Wohnung sperrt und dann denkt, man hat "Wirklichkeit". Und in diesem wirklichen Leben sieht man, dass sie noch viel mehr schauspielen. Ich mag dieses Paradoxon: dass die einzige Art, in der man authentisch sein kann, das Schauspielen ist.

STANDARD: Da werden Ihnen viele Schauspieler recht geben.

Žižek: Ich bin ganz dieser Meinung. Darum bin ich auch gegen die New-Age-Bewegung. Der große Horror für mich ist, wenn mir jemand sagt: Sei du selbst, be yourself! Sei, wer du wirklich bist. Ich will gar nicht wissen, wer ich wirklich bin! Das mag Sie überraschen, aber obwohl ich über Psychoanalyse schreibe, ist es für mich ein Horror, tief in mich selbst zu blicken.

STANDARD: Weil Sie über das "Sich-selbst-Kennen" sprechen und weil Sie vorhin über Samuel Goldwyn gesprochen haben: Da gibt es eine Anekdote über einen anderen Mogul, ich glaube, es war Adolph Zukor oder George Cukor. Er begegnet einem jungen Angestellten auf dem Filmgelände, und der sagt zu ihm "Hello, stranger!", worauf C/Zukor antwortet: "What do you mean, stranger? I don't even know you!"

Žižek: Ja, der ist gut. Aber die beste Geschichte über Goldwyn geht so: Ein anderer Produzent bietet ihm einen Deal an und will eine mündliche Abmachung. Worauf Goldwyn sagt: "Das nehme ich nicht ernst. Eine mündliche Abmachung ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht."

Und da ist noch eine: In den späten 1930ern produzierte Goldwyn die Verfilmung eines Buches von Lillian Hellman, und die Beteiligten sagten, man könne den Stoff nicht so verfilmen, weil da - was unter dem Hays-Code nicht erlaubt war - Lesbierinnen vorkamen. Worauf er gesagt haben soll: "Kein Problem. Dann machen wir halt Ungarinnen aus ihnen."

Ich denke wirklich, apropos, dass wir mehr Klischees brauchen. Es gibt kein Leben ohne Klischees.

Und weil wir schon von Identität und dem Internet sprechen: Wussten Sie, dass die Marx Brothers einige sehr gute Szenen über Identität hatten? Zum Beispiel das Zitat von Groucho: "Dieser Kerl schaut aus wie ein Idiot und er redet wie ein Idiot. Aber lassen Sie sich nicht täuschen: Dieser Mann ist ein Idiot." Oder diese Szene, in der Groucho einen Mann trifft und ihm sagt: "Sie sehen aus wie Emmanuel Ravelli." Der Mann sagt: "Aber ich bin ja Emmanuel Ravelli!" Worauf Groucho sagt: "Wenn Sie Emmanuel Ravelli sind, dann ist es kein Wunder, dass Sie aussehen wie er."

Das mit dem Idioten, da hat Groucho recht. Diese dialektische Dimension geht im Cyberspace verloren. Im Cyberspace ist man von vornherein ein Idiot, wenn man so redet oder agiert.

Oder nehmen Sie doch diese Heirats- und Dating-Agenturen. Da beschreibt man sich selbst im Netz. Doch was man da sagt, ist per definitionem falsch. Und da "fällt" man nicht, you don't fall in love; das ist zu perfekt.

Vor einigen Jahren wurden Männer in Amerika gefragt, welches der damaligen Supermodels sie lieber als Sexualpartner hätten, Claudia Schiffer oder Cindy Crawford. Die Antwort war Cindy Crawford. Und warum? Claudia Schiffer, sagten die Befragten, sei zu perfekt; Crawford hat dieses Muttermal. So ein kleiner Fleck ist wichtig. Man verliebt sich nicht in Perfektion, man braucht ein kleines Zeichen des Nichtperfekten.

Mir fällt gerade noch etwas ein, was zum Verständnis der Verschiebung von Privat und Öffentlich beiträgt. Es ist gerade ein Film herausgekommen, "The Act of Killing" von Joshua Oppenheimer. Es ist der deprimierendste Film, den man sich vorstellen kann. Der Regisseur wurde eingeladen, einen Film über die millionenfachen Morde zu machen, die sich in Indonesien in den 1960er Jahren ereignet haben. Die die Massentötungen organisiert haben, verstecken ihre Taten nicht - sie geben mit ihnen an. Sie sprechen über die besten Methoden, wie man Menschen umbringt, wie man Frauen vergewaltigt.

Die größte Obszönität, die hier zu sehen ist, besteht darin, dass diese Leute in einem Fernsehprogramm auftreten, in einer öffentlichen Veranstaltung, auf der ein Moderator sie etwa fragt, wie sie mit dem Problem der Folter umgegangen seien, und die Folterer detaillierte Antworten geben. Darauf lobt der Moderator sie für ihre erfinderischen Methoden und fordert die Zuhörer zum Applaus auf. Erst als die Protagonisten gemerkt haben, dass der Film in kritischer Absicht gedreht wurde und nicht, um sie in ein gutes Licht zu stellen, wurde das Team bedroht.

Das ist auch eine Invasion des Privaten im öffentlichen Raum, die Logik des Internets in der Öffentlichkeit: Chatrooms ohne Regeln. Erst der Film macht die gefilmten Veranstaltungen zu einem öffentlichen Ereignis.

STANDARD: Sie werden nach Wien kommen. Vor vielen Jahren haben Sie sich mit dem Film "The Sound of Music" ("Meine Lieder, meine Träume") beschäftigt und ihn neu gedeutet. Sind Sie seither auf andere Austriaca gestoßen, die Sie beschäftigt haben?

Žižek: In meinem neuen Buch gehe ich auf den Fall Fritzl ein, und zwar auf die klare Teilung, die klassische Freud'sche Trennung zwischen dem "normalen" öffentlichen Raum und dem obszönen Bereich. Er hat diese Trennung perfekt architektonisch umgesetzt. Oben die offizielle Familie, unten seine private Domäne der geheimen Begierden.

Was mir überhaupt nicht gefallen hat, war, wie manche den Fall Fritzl als etwas typisch österreichisch Protofaschistisches gedeutet haben. Die Struktur ist aber universell. Und in einer faschistischen Ordnung hätten die Nachbarn wahrscheinlich sogar eher herausbekommen, was da los ist, weil die Leute einander überwachen.

Diese Struktur, dass man offiziell brav ist und inoffiziell machen kann, was man will, solange nicht darüber gesprochen wird - das konstituiert ganze Gesellschaften.

STANDARD: Sie haben in den letzten Jahren angesichts der Finanzkrisen für eine Repolitisierung der Ökonomie plädiert. Welche Rolle kann der Cyberspace dabei spielen?

Žižek: Es ist spannend zu beobachten, wie normale, ehrbare Bürger korrumpiert werden können. Es gibt ein Buch darüber, und der Rat ist: Mach es nicht direkt, sondern über mehre Vermittlungen. Man wird also nicht sagen: Investieren Sie in Menschenhandel. Der ehrbare Bürger wird darauf sagen, das ist ja furchtbar, bloß nicht. Sag stattdessen: Investieren Sie in diesen Fonds. Der investiert wieder irgendwo, und man weiß nicht mehr oder will auch gar nicht wissen, wo das Geld dann landet.

Da gibt es doch die Hollywood-Schauspieler, die humanitäre Anliegen verfolgen und dafür bekannt sind und gelobt werden. Nun, ich weiß von einigen von ihnen, dass sie in Realitäten in Dubai investieren. Ich war in Dubai: Dort herrscht Sklavenarbeit. Ein pakistanischer Taxifahrer hat mich durch die ganze Stadt geführt, mir die wirkliche Dubai-Tour geboten.

Also das Anliegen war ja ursprünglich, durch das Internet mehr Transparenz zu ermöglichen. Nun macht es das Internet aber auch viel leichter, Spuren zu verwischen, zum Beispiel bei den eben genannten Investitionen.

STANDARD: Aber das lief doch auch schon vor dem Internet.

Žižek: Aber mit dem Internet ist es viel leichter geworden. Nur möchte ich andererseits Folgendes sagen - ich möchte eigentlich Wagner zitieren, bei dem es in "Parsifal" heißt: "Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug." (auf Deutsch) Also Internet macht die Manipulationen leichter. Aber es ist auch ein wunderbares Werkzeug, die Strukturen doch transparenter zu machen. Ein paar gute Hacker, und die Dinge werden durchsichtiger. Das ist das Ambivalente am Netz.

Ich bin also kein Pessimist. Was ich nur sage ist: Das Internet ist die Stätte eines Kampfes. Und der Kampf geht weiter. Wenn die Leute sich über das Netz beschweren und sagen, dass es zur Entfremdung beiträgt, und lauter solche Dinge, dann antworte ich darauf: Nur das Internet kann uns vom Internet erlösen.

Ich gebe Ihnen hiermit das Recht, den Inhalt beliebig zu manipulieren. Handeln Sie als guter Stalinist. Biegen Sie es so hin, dass das Gegenteil von dem dasteht, was ich gesagt habe.

STANDARD: Mach' ich. Und Salvatore wird Sie nach Hause fahren. (Michael Freund, Album, DER STANDARD, Langfassung, 29./30.9.2012)