Richard Freeman gilt als einer der intellektuellsten Lehrer in der weltweiten Yoga-Szene, zum Workshop war er in Wien.

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STANDARD: "Kann Yoga den Körper ruinieren?" war eine Frage, die vor einem halben Jahr in allen österreichischen Tageszeitungen diskutiert wurde. Sie sind seit 1968 Yogi. Was hätten Sie geantwortet?

Richard Freeman: Natürlich kann Yoga den Körper ruinieren, gefährdet sind all jene, die Yoga mit Leistung verknüpfen. Es kommt immer darauf an, wie man praktiziert. Wenn Lehrer ihren Schülern nicht die richtige Körperausrichtung beibringen, kann sich das sehr negativ auf die Gelenke auswirken. Es kann den Körper ruinieren. Andererseits kann Yoga aber auch das beste Heilsystem der Welt sein.

STANDARD: Inwiefern?

Freeman: Die Körperübungen im Yoga sind eine Art von Physiotherapie. Es gibt viele Menschen, die sich nur sehr wenig mit dem eigenen Körper befassen. Wer regelmäßig übt, lernt sich gut kennen, beobachtet sich, weiß um die eigenen Grenzen Bescheid.

STANDARD: Das gilt doch aber wohl für alle Sportarten?

Freeman: Meditation und die damit verbundene Aufmerksamkeit des Geistes ist im Sport selten ein Ziel, aber genau darum geht es im Yoga eigentlich. Der Geist soll klar werden.

STANDARD: Und das geht, indem sich Yogis in brezelartigen Stellungen verrenken?

Freeman: Es sind Übungen, die für den Körper und damit auch für den Geist sehr ungewöhnlich sind. Und plötzlich sieht man die Welt in völlig neuen Perspektiven. Plötzlich fühlt man Körpermuster, die man normalerweise nicht spürt. Die Brezelstellungen rufen Gefühle wach, die man sonst vielleicht auch gar nicht spüren will. Aus Erfahrung kann ich sagen: Eine der schwierigsten Übungen ist ruhiges Sitzen und Atmen und seinen Geist nicht in andere Gefilde abdriften zu lassen. Wer meditiert, fühlt, dass alle und alles miteinander verbunden sind. Es ist eine fantastische Erfahrung.

STANDARD: Klingt nach Religion.

Freeman: Yoga kann, muss aber keine Religion sein. Für viele ist es ein Ersatz für die Religion, in der sie aufgewachsen sind. Doch Religion und Yoga muss man unterscheiden, Religion ist eine tiefe mystische Erfahrung.

STANDARD: Sie sprechen in Ihren Stunden oft von "suffering", dem Leiden. Warum?

Freeman: Weil Yoga wirklich glücklich machen kann und eine so simple Übung, wie die Arme zu heben, sich fantastisch anfühlt (hebt die Arme und lacht). Manchmal fast zu gut. Es ist eine Ironie der Natur, dass wir jeden Tag älter werden und dem Verfall ein Stück näher kommen. Alter, Krankheit und Tod gehören zum Leben, das ist einfach so. Wer regelmäßig praktiziert, schafft Klarheit im Geist und im Herzen. Das befreit einen vom Zustand des Leidens - sogar dann, wenn man Schmerzen hat. Man kann Schmerzen haben und nicht leiden. Das ist möglich.

STANDARD: Yoga machen aber in erster Linie relativ junge Frauen in westlichen Großstädten. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Freeman: Das Leben in modernen Großstädten ist nicht besonders gesund. Jeden Tag dieselben Routinen, Stress, kaum Bewegung. Alles geht schnell, muss schnell gehen, und deshalb haben wir in unserem Denken Kategorien geschaffen, mit denen wir sämtliche Dinge beurteilen. Dadurch sieht man nicht, was auch sonst noch da sein könnte. Dadurch geht Menschlichkeit verloren.

STANDARD: Gleichzeitig ist Yoga in den letzten Jahren auch ein sehr erfolgreiches Business geworden.

Freeman: Das stimmt, es geht auch hier mittlerweile um Geldverdienen und Marktanteile. Es gibt Richtungen, die erinnern mich fast an Scientology. Ich denke, das ist schlecht.

STANDARD: Wie sollten sich Neueinsteiger in dieser Szene innerhalb der verschiedenen Richtungen und ihren Versprechungen zurechtfinden?

Freeman: Es gibt viele Arten von Yoga, und ironischerweise bringt jede auf ihre Weise sogar eine Art von Wohlgefühl. Ich denke, man sollte zu großen Versprechungen nicht trauen. Es sollte immer einen Austausch, eine Dialektik zwischen Yoga-Stilen geben. Toleranz gegenüber anderen Stilen ist ein guter Hinweis. Auch in Indien, wo Yoga entstanden ist, tauschen sich die Schulen aus. Wichtig ist vor allem, dass Yoga seinen meditativen Ansatz bewahrt. Das hält den Geist flexibel. Kritik muss im Yoga erlaubt sein, dadurch entwickeln sich ja die Systeme auch weiter.

STANDARD: Gilt das auch für Ihren Unterricht?

Freeman: Ich unterrichte Ashtanga-Yoga, aber in einer von mir modifizierten Form. Ich spreche in meinen Stunden viel über die Anatomie, über die inneren Muskelsysteme des Körpers und über das Atmen. Das sind Dinge, die meine Lehrer mir beigebracht haben und die ich weitergebe.

STANDARD: Können auch alte und kranke Menschen Yoga machen?

Freeman: Wir werden alle älter, kränker, insofern ist es für uns alle ein Thema. Aber klar, wenn ältere Menschen mit Yoga beginnen, statten wir sie mit Blöcken, Decken und Bändern aus und adaptieren Übungen. So kann jeder Übungen machen, sogar nach Operationen. Jedes gute Yoga-System und jeder gute Yoga-Lehrer kann sich an spezielle Bedürfnisse anpassen. Auch im Bett liegen kann zu einer Yoga-Übung werden. Irgendwann geht es für jeden von uns nur mehr ums Atmen. Zu diesem Punkt werden wir kommen, und dafür trainieren wir, machen Yoga. (Karin Pollack, DER STANDARD, 1.10.2012)