Deutschland sei die ökonomisch stärkste Macht des Kontinents, und die Europäische Union könnte durchaus an den Deutschen scheitern. Das sagte kürzlich Helmut Schmidt, der fast 93-jährige, hochangesehene, sozialdemokratische Altkanzler. Seine Warnungen gegen die "national-egoistische" Sichtweise "eines Teils der öffentlichen Meinung" hatte Schmidt schon vor einem Jahr mit dem Rat an seine Partei verbunden, den früheren Finanzminister Peer Steinbrück zum Kandidaten für das Bundeskanzleramt bei der im September 2013 fälligen Bundestagswahl zu nominieren.

Für viele Beobachter überraschend, hat SPD-Chef Sigmar Gabriel bereits jetzt den 65-jährigen Steinbrück ein Jahr vor der Bundestagswahl zum Spitzenkandidaten vorgeschlagen. Er selber wollte, konnte jedoch wegen schlechter Umfragedaten nicht Kandidat werden. Der in der Partei populärste Mann, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, wollte wiederum nicht, weil er bereits 2009 eine bittere Niederlage gegen Kanzlerin Angela Merkel verkraften musste.

Die meisten Beobachter betrachten den gebürtigen Hamburger, den ältesten Kandidaten für das Bundeskanzleramt, den je eine Oppositionspartei nominiert hat, als den schwierigsten und unangenehmsten Gegner Merkels. Trotz eines deutlichen Vorsprungs bei den Meinungsumfragen von 53 Prozent zu 36 Prozent für Merkel bleibt Steinbrück wegen seiner Wirtschaftskompetenz der potenziell gefährlichste Herausforderer. Am 5. Oktober 2008 garantierte der sozialdemokratische Finanzminister der schwarz-roten Koalitionsregierung zusammen mit Merkel in einem denkwürdigen Auftritt den Deutschen ihre Spareinlagen und organisierte die Bankenrettungsfonds. Der Diplomvolkswirt, den übrigens der bisher letzte SPD-Kanzler Gerhard Schröder schon vor einiger Zeit als den besten Mann in der Führungsspitze seiner Partei lobte, ist zweifellos der attraktivste Kandidat der Sozialdemokraten in einem Wettbewerb, der in der Mitte entschieden wird.

Man darf freilich nicht vergessen, dass Steinbrück 2005 im Nordrhein-Westfalen als Ministerpräsident der rot-grünen Koalitionsregierung eine Wahlniederlage erlitten hat. Seine innerparteilichen Gegner, die die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer fordern, lehnen seinen Kurs der Mitte ab und spotten über einen Mann, der noch nie eine Wahl gewonnen hat: Wenn Steinbrück jetzt von seiner Politik abrückt, die er als Finanzminister vertreten hat, verprellt er die bürgerliche Mitte. Beachtet er andererseits die ökonomische Realität und hilft der mittelständischen Wirtschaft, lauft er Gefahr, die eigene Klientel zu verlieren.

In einem ein ganzes Jahr dauernden Wahlkampf wird man beurteilen können, ob es Steinbrück, der sich vor knapp drei Jahren bereits aus der "ersten und zweiten Reihe der Politik" verabschiedet hat, gelingt, diese neue unerwartete Chance auszunützen und die Bevölkerung von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Es ist jedenfalls ein Glück nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa, dass das Ringen um die Zukunft dieser wirtschaftlichen Führungsmacht in der EU zwischen einer so erfolgreichen Kanzlerin und einem so seriösen politischen Gegner geprägt wird. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 2.10.2012)