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Jubel in Tiflis.

Foto: Reuters/Mdzinarishvili

Tiflis - Bei der von einem Machtkampf und einem Folterskandal in Gefängnissen überschatteten Parlamentswahl in Georgien hat sich Oppositionsführer Bidsina Iwanischwili (Bidzina Ivanishvili) trotz unklarer Mehrheitsverhältnisse zum Sieger ausgerufen. Staatschef Micheil Saakaschwili (Mikheil Saakashvili) räumte lediglich ein, dass die Hauptstadt Tiflis (Tbilisi) verloren sei. In den Regionen der Südkaukasus-Republik habe seine Partei Vereinte Nationale Bewegung dagegen viele starke Direktkandidaten, sagte Saakaschwili am Montagabend in Tiflis. Fast die Hälfte der 150 Mandate wird an Direktkandidaten vergeben, so dass die Sitzverteilung zunächst unklar blieb. Mit ersten Auszählungsergebnissen wird erst in der Nacht auf Dienstag nach 01.00 Uhr MESZ zu rechnen.

"Wir haben gewonnen! Das georgische Volk hat gewonnen!", sagte Iwanischwili in einer Rede im oppositionellen Fernsehsender TV9, der von dem Politiker selbst finanziert wird. Zuvor hatte das Staatsfernsehen unter Berufung auf Nachwahlbefragungen berichtet, die Oppositionskoalition habe bei den Wahlen 35 Prozent der Stimmen erhalten. Die Partei Vereinte Nationale Bewegung von Präsident Saakaschwili kam demnach auf 30 Prozent. Berichten der Sender Rustawi 2 und Imedi zufolge kam die Opposition laut Umfragen auf 51 Prozent, Saakaschwilis Partei erreichte demnach 41 Prozent.

Mahnung zur Ruhe

Damit wäre auf jeden Fall das Machtmonopol des seit 2003 regierenden Staatschefs gebrochen. Beide Polit-Führer mahnten zur Ruhe. Saakaschwili betonte, es müssten die endgültigen Ergebnisse abgewartet werden. Zugleich zeigte er sich zur Zusammenarbeit bereit.

Die Opposition sprach sogar von einem klaren Wahlsieg mit 67 zu 23 Prozent der Stimmen. Wegen einer Besonderheit des Wahlrechts - eine Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht - muss dies für den Milliardär Iwanischwili aber nicht automatisch die entscheidende Mehrheit der Parlamentssitze bedeuten. Das Land werde auf jeden Fall erstmals eine starke Opposition haben, betonten Experten. Sowohl Saakaschwili als auch Iwanischwili betonen, dass sie einen pro-westlichen Kurs beibehalten wollen und eine Mitgliedschaft in EU und NATO anstreben.

Als maßgeblich für beide Seiten gilt auch das Urteil der internationalen Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die den Urnengang an diesem Dienstag nach demokratischen Maßstäben bewertet. Die Wahlen waren von einem Skandal von Folter und Vergewaltigungen in georgischen Gefängnissen überschattet, der den Vorsprung der Regierungspartei in den Umfragen jüngst schmelzen ließ.

Die Wahl werde "die Intensität und den Rhythmus" der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Georgien bestimmen, sagte die Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton in Brüssel. Die USA warnten vor möglicher Gewalt nach der Wahl. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sprach von einem "Lackmustest" für die Demokratie im Land. Die Wahl wurde von mehr als 1.600 internationalen Beobachtern verfolgt, hinzu kommen mehr als 50.000 lokale Beobachter.

Rund 3,6 Millionen Wahlberechtigte waren zur Abstimmung aufgerufen. Die Wahlbeteiligung lag am späten Nachmittag bei 53 Prozent. Derzeit verfügt Saakaschwilis Partei mit 119 Sitzen über die absolute Mehrheit in einem Parlament ohne echte Opposition. Nach der Wahl will Saakaschwili, der nicht erneut für das Amt des Präsidenten kandidieren darf, nach Ansicht von Politologen seinen Posten - ähnlich wie es in Russland passiert ist - mit dem des Premiers tauschen. Das Amt des Regierungschefs wurde 2010 per Verfassungsänderung, die erst mit der nächsten Präsidentenwahl im Oktober 2013 in Kraft tritt, aufgewertet.

Nach einem aufgeheizten Wahlkampf klagten Regierungsgegner über Manipulationen bei der Abstimmung. Die Führung habe Wähler rundum mit Bussen in verschiedene Wahllokale chauffiert, um widerrechtlich mehrfach ihre Stimme abzugeben. Polizisten in Zivil hätten Wähler eingeschüchtert, behauptete eine Sprecherin von Georgischer Traum. Nichtregierungsorganisationen kritisierten, dass Regierungsgegner im Vorfeld der Wahl unter Druck gesetzt und festgenommen worden seien.

Iwanischwili stimmte aus Protest nicht ab, weil ihm Saakaschwilis Behörden die Staatsbürgerschaft entzogen hatten. Eine umstrittene Verfassungsänderung, die ihm als in Georgien geborenen Inhabers eines französischen EU-Passes eine Teilnahme - aber zugleich auch eine Kandidatur - dennoch erlaubt, lehnt der Unternehmer ab. Das Präsidentenlager wirft dem in Russland zu Reichtum gekommenen Iwanischwili vor, ein Handlager Moskaus zu sein. Das Verhältnis der beiden früheren Sowjet-Republiken ist seit dem fünftägigen Krieg im Sommer 2008 um die von Tiflis abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien weiter zerrüttet. Allerdings strebt auch Iwanischwili eine Aufnahme in die Europäische Union und die NATO an.

Es handelt sich um die bedeutendste Abstimmung in dem für den Westen strategisch wichtigen Land seit der unblutigen Rosenrevolution von 2003. Der damalige Held Saakaschwili (44) steht als autoritärer Führer unter Beschuss. Nun gilt Iwanischwili (56) als neuer Hoffnungsträger für viele Menschen, die mehr Demokratie und Wohlstand ersehnen.  (APA, 1.10.2012)