Christian Kratzik während einer Operation im russischen Sewerodwinsk.

Foto: Österreichische Selbsthilfegruppe für Prostatakrebs

Sewerodwinsk ist eine Stadt von bizarrer Schönheit. Sie liegt etwa 1.000 km nördlich von Moskau direkt am Weißen Meer, mitten im russisch-militärischen Sperrgebiet. Plattenbauten und einfache Holzhäuser erinnern an den eher zweckmäßigen Anlass ihrer Errichtung im Zuge von Stalins Industrialisierungsprogramm. Die knapp 200.000 Einwohner zählende Stadt ist heute Industriezentrum, Zentrale des russischen Atom-U-Bootbaus und Stützpunkt der atomaren U-Boot-Flotte. Also alles andere als eine attraktive Urlaubsdestination.

"Aufgrund der Atomwaffen-Versuche, die dort über Jahrzehnte durchgeführt wurden, ist die Krebsinzidenz in der Region besonders hoch. Zwar gibt es vor Ort ein onkologisches Zentrum und sogar ein eigenes onkologisches Spital im rund 35 km entfernten Archangelsk. Dennoch ist die Versorgung der Patienten nicht ausreichend", weiß Ekkehard Büchler, Obmann der Österreichischen Selbsthilfegruppe für Prostatakrebs.

In fremden Ländern operieren

Der Wiener Mediziner Christian Kratzik von der Uni-Klinik für Urologie wollte dennoch hin. Zweck der Reise war es, Prostatakrebs-Patienten zu operieren, die sonst höchst strapaziöse und für diese Menschen kaum leistbare Fahrten nach Archangelsk auf sich hätten nehmen müssen, denn vom Staat bezahlte Krankentransporte gibt es nicht. Sechs Operationen (drei Prostata-Entfernungen, zwei Tumornephrektomien und ein TVT-Band) standen am Programm. "Ich finde es immer interessant, wo anders zu operieren", berichtet Kratzik, der schon in mehrmals in Afrika kostenlos seine Expertise anbot und nächstes Jahr nach Nepal reisen wird.

"Es war ziemlich herausfordernd und in vielen Dingen anders als bei uns. Das Equipment des Operationssaals ist natürlich nicht mit dem an einer zentraleuropäischen Universitätsklinik vergleichbar und einige Hygienestandards sind zwar ausreichend, aber doch etwas gewöhnungsbedürftig. Manches könnte man auch mit wenig Aufwand und Geld verbessern - wie zum Beispiel effizientere Abläufe, um mehr als einen Patienten pro Tag operieren zu können", erläutert der Wiener Mediziner.

"Man of adventure"

Die größeren Probleme lägen nach Meinung des Urologen eher in der Ausbildung und in der apparativen diagnostischen Ausstattung: "Es gibt zum Beispiel im gesamten Gebiet nur einen Computertomographen und keinen Ganzkörperknochenscan - der nächste ist eine Flugstunde entfernt." Kratzik schulte die ansässigen Ärzte und nahm an einem wissenschaftlichen Abend teil, der aus Anlass seines Besuches organisiert wurde.

"Die Ärzte sind enorm an Weiterbildung interessiert. Damit sie auch selbst operieren können, müsste man diese Aktion jedoch ein paar Mal wiederholen." Auf die Nachfrage, ob auch er selbst noch einmal hinfliegen würde: "Wahrscheinlich ja! Ich würde es noch einmal machen. Sewerodwinsk ist ein Erlebnis außerhalb des gewohnten Rahmens. Landschaftlich sehr schön, die Menschen äußerst gastfreundlich, aber es ist ein wirkliches Abenteuer - kein Reiseland."

Der Urologe scheint bei den russischen Kollegen laut eines kurzen E-Mail-Feedbacks jedenfalls gut in Erinnerung geblieben zu sein: "Professor Kratzik is not only a perfect specialist, he is also a man of adventure. We like him very much." (red, derStandard.at, 1.10.2012)