Lösen die Städte und ihre globalen Netzwerke in den nächsten Dekaden die Staaten als die dominierenden Akteure der Weltpolitik ab? Können diese Player, die das Rückgrat der globalen Wirtschaftsarchitektur bilden, aktuelle Probleme - Klimawandel, Terrorismus, Armut - besser bewältigen als Staaten?

Die renommierte Stadtsoziologin Saskia Sassen, die an der Universität Chicago lehrte, bejaht diese Frage in einem Gastkommentar auf derStandard.at. Dieser Standpunkt vernachlässigt allerdings wichtige Aspekte wie den Einfluss, den nationale Regierungen und Politiken auf den Aufstieg der Global Cities hatten; oder die Bedeutung der historischen territorialen Strukturen der Staaten auf die Stadtentwicklung. Letztendlich steht dies Sichtweise von Saskia Sassen symptomatisch für jene "Globalisierungseuphorie", die die Sozialwissenschaften in den 1990er-Jahren erfasste und als solche die Perspektive des Nationalstaates rundweg ablehnte.

Der Einfluss des Staates auf den Aufstieg der Global Cities

Global Cities, die Steuerungszentralen der Weltwirtschaft, jene Orte, an denen das Wissen über das Management der Globalisierung verfügbar ist, sind - wie die Globalisierung selbst - keine Naturgesetzlichkeit. Sie sind vielmehr das Produkt einer Politik, die von den Nationalstaaten maßgeblich gesteuert wurde. Dies betrifft zwei Aspekte: erstens die Liberalisierung der Weltwirtschaft, etwa der Finanz- und Aktienmärkte, des internationalen Kapitalverkehrs sowie des Handels. Zweitens die nationalen Strategien, die den Aufstieg von nationalen Städten zu internationalen Steuerungszentralen - Global Cities - gezielt gefördert haben. 

Das Beispiel London unterstreicht die Rolle der staatlichen Politik für dessen Aufstieg zur Global City ersten Ranges. Die schlagartige Liberalisierung der Börse und des Kapitalmarktes 1986, die als "Big Bang" in die Wirtschaftsgeschichte Großbritanniens einging, schuf dafür die makroökonomischen Voraussetzungen.

Parallel dazu kam es zu einem radikalen Umbau der Stadtentwicklungspolitik: Mit der Neugestaltung der politischen Strukturen durch Thatchers Politik entledigte man sich politischer Gegner; der Umbau des ehemaligen Hafenareals (Docklands) in bester zentraler Lage wurde von Privatinvestoren getragen und durch die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen (die mit steuerlichen Privilegien einhergingen) forciert. Der damit ausgelöste Bauboom und die frühe Liberalisierung bescherten London den Boom der Finanzindustrie und damit Standortvorteile, die aufstrebende Konkurrenten auf dem Festland - Paris, Frankfurt, Amsterdam - nachhaltig in die zweite und dritte Reihe zurückverwiesen. Die Liste an ähnlichen Beispielen könnte beliebig verlängert werden - insbesondere um Städte in den USA (New York, Los Angeles, Chicago) und in Lateinamerika (Mexiko, Chile).

Historische Entwicklungspfade und territoriale Strukturen

Neben der staatlichen Politik haben historische Strukturen einen maßgeblichen Einfluss auf die Bedeutung der Global City. So erleichterte die lange Geschichte Londons als Nabel eines weltumspannenden Kolonialreiches die Bemühungen der nationalen Stadtentwicklungspolitik.

Wien ist ebenso ein Beispiel für die Bedeutung historisch gewachsener Strukturen. Die Donaumetropole, die unter den 120 wichtigsten Global Cities immerhin im Mittelfeld rangiert, schöpft ihre Bedeutung aus den geopolitischen Umbrüchen von 1989 und der langen Tradition als mitteleuropäische Drehscheibe zwischen West und Ost: Westliches Investitionskapital fließt nach Wien, von dort mit österreichischem Kapital in das süd-/östliche Europa. Ein Muster, das schon 100 Jahre zuvor existierte und seit den 1990er Jahren in verblüffend ähnlicher Weise wiedergekehrt ist.

Die Kommunalpolitik hatte dazu auch nicht den geringsten Beitrag geleistet. Wiens Status als Global City geht auf die großen Wiener Banken mit ihren historischen Fühlungsvorteilen zurück, die schon wenige Monate nach dem Fall der Mauer in Budapest und Prag Niederlassungen eröffneten und Fusionen erfolgreich abgewickelt hatten - lange bevor westliche Konkurrenten das Potenzial und die Risiken dieser Märkte auch nur annähernd abschätzen konnten.

Auch die territorialen Strukturen des Staates beeinflussen die Bedeutung der Global City; es ist wohl kein Zufall, dass das zentralistische Frankreich mit Paris eine überragende Global City zählt, daneben nur das unbedeutende Lyon. Das polyzentrische und dezentrale Deutschland zählt hingegen sechs Global Cities auf durchwegs guten Positionen. Föderale Staaten bieten ihren Städten zwar größere politische Handlungsfreiheit, allerdings können diese Vorteile oft durch lokale Interessenkonflikte (vergleiche Wien - Niederösterreich) verpuffen oder aufgrund enger werdender finanzieller Handlungsspielräume nicht genutzt werden. Umgekehrt haben zentralistischer organisierte Staaten die Möglichkeit, Einfluss auf lokale Planungen der Stadtentwicklung zu nehmen.

Städte statt Staaten - das Stimmungsbild der 90er Jahre

Die 1990er Jahre waren von der Vorstellung geprägt, dass sich Globalisierung zwischen der lokalen Ebene und einer diffusen globalen Ebene abspielt; die umfassende Theoriebildung dieser Jahre - Saskia Sassens "Global Cities", Manuel Castells "Space of Flows" oder John Ruggies "postmoderner politischer Raum" - lehnte den "Machtbehälter Staat" mit seinen territorialen Grenzen als Erklärungsfaktor ab.

Doch die Euphorie ist verflogen. Hinter der Globalisierungsmetapher stehen nach wie vor die Nationalstaaten als mächtige und vor allem steuernde Akteure. Sie sind es, die durch ihre makroökonomische sowie städteplanerische Politik zur - im Bourdieu'schen Sinne - sozialen Raumproduktion der Global Cities beigetragen haben. Daneben existieren historische Pfadabhängigkeiten, auf die die Politik - weder national noch lokal - einen Einfluss hat. So ist auch das Ausmaß der sozialen Disparitäten, der für Global Cities typische Dualisierung des Arbeitsmarktes weniger von der kommunalen Politik als vielmehr von den nationalen sozialstaatlichen Sicherungssystemen geprägt.

Die steigende Bedeutung der Städte resultiert aus dem ständig wachsenden Anteil urbaner Bevölkerung. Ihre beträchtliche historische Kontinuität ist eine Folge von Agglomerationsvorteilen (großer lokaler Markt, hohe Dichte von Marktteilnehmern, Informationsvorteile und andere) sowie der Immobilität der Bevölkerung. Städtische Verwaltungen sind nahe an den technisch-administrativen und sozialen Herausforderungen des urbanen Zeitalters und werden die Bühne sein, auf der Lösungsstrategien entwickelt und gelebt werden.

Doch daraus einen Hinweis auf den Niedergang der Staaten abzuleiten wäre verfehlt. Es vermischt die Tatsache, dass - nach dem Subsidiaritätsprinzip - unterschiedliche Politikbereiche auf unterschiedlichen Ebenen (Staat, Länder, Gemeinden) angesiedelt und zu lösen sind, mit den Einfluss- und Steuerungsstrukturen der Poltikebenen. Die Vision von Saskia Sassen ist auch nicht wünschenswert. Denn die Staaten sind jene Institutionen, die zwei große Errungenschaften der Moderne, nämlich Demokratie und Wohlfahrtssystem, garantieren. (Robert Musil, derStandard.at, 2.12.2012)