Neuestes lomografisches Werkzeug: die Belair X6-12, eine Mittelformatkamera mit wechselbaren Objektiven. Kostenpunkt: ab 249 Euro.

Foto: Lomography

Matthias Fiegl, Sally Bibawy und Wolfgang Stranzinger (v. li.): Aus den Erfindern der Lomography-Bewegung sind die Vorstände eines weltumspannenden Firmennetzwerks geworden.

Foto: Lomography

Nein, die digitale Fotografie sei keine Bedrohung, sagt Sally Bibawy. "Wir profitieren zum Teil sogar davon. Weil die analoge Idee dadurch noch klarer wird, noch kommunizierbarer." Bibawy ist einer der Vorstände der Lomographischen AG. Sie und ihre Kollegen Matthias Fiegl und Wolfgang Stranzinger sind die Organisatoren jener populären Résistance analoger Fotografie, die Anfang der 1990er-Jahre in Wien geboren wurde, um zu einem weltweiten Phänomen zu avancieren: zur Lomografie.

Als digitale Bilder Thema wurden, war die Community schon so stark, waren die antiquiert anmutenden Schnappschüsse, die den Alltag dokumentieren, ihn neu inszenieren, bereits zur selbstständigen und selbstverständlichen Spielart geworden. In dem 1992 gegründeten Verein fotointeressierter Studenten stand eine spezielle Kamera aus russischer Produktion und eine neue Auffassung des Bildermachens im Zentrum. Der Bewegung wurde schon früh starkes Medienecho zuteil, sie wurde in den Feuilletons diskutiert. "Ob es Kunst ist oder nicht, war uns aber eigentlich immer wurscht", sagt Fiegl.

Natürlich organisiert sich heute die globale Community online. Die auf Papier ausgearbeiteten Lomografien werden paradoxerweise gescannt, upgeloadet, beschlagwortet. Das Onlinearchiv ist auf knapp zehn Millionen Fotografien angewachsen. Die Lomo-Chefs sind stolz, dass die Homepage bereits in den 1990ern, als von Web 2.0, Facebook und Instagram noch keine Rede war, Fotos online getauscht wurden. Und natürlich ist die kreative Bewegung längst auch zu einer wirtschaftlichen Größe geworden. 300 Mitarbeiter arbeiten weltweit für Lomography, zwischen Tokio und Barcelona gibt es 35 eigene Shops.

Eine der letzten Neuerungen war die einfache Videokamera LomoKino. Mit Kurbel. Nächstes Jahr wird es nebst weiteren drei oder vier neuen Kameras einen Negativscanner fürs iPhone geben. "Apps wird es aber nur zur Onlinekommunikation geben, nicht, um analoge Fotos nachzubilden", so viel sei klar. Es gebe noch genug analoge Filmvarianten, die man sich zur Erschließung neuer Ästhetiken einfallen lassen könne, genug Möglichkeiten bei den Fotoausarbeitungen in diversen Formaten, Papierarten, Techniken. Langfristig werde eine verstärkte Expansion in Nicht-Foto-Bereiche überlegt: Mode, vielleicht Musik.

Die Unternehmensgenese ist voll von Geschichten, die vom Aufeinanderprallen einer jungen Szene mit wirtschaftlichen Konventionen erzählt. Wie der oftmalige Schmuggel der Original-Lomo LC-A aus Moskau, wo auch einmal ein paar hundert Stück von Grenzbeamten eingezogen wurden. Oder das Fax mit der Bitte um Unterstützung für eine Ausstellung, das an den Produzenten, den russischen Waffen- und Optikkonzern Lomo, ging und angesichts des Sendedatums als Aprilscherz aufgefasst und sogar in der Mitarbeiterzeitung des Konzerns abgedruckt wurde. Später hielt der Konzern extra für die Lomografen die Kameraproduktion über Jahre hinweg aufrecht. Man sei öfter mit dem Vorhaben nach St. Petersburg gereist, den trotz steigender Abnahmemengen stetig höher werdenden Preis zu drücken. Bei jedem Besuch seien die Kameras noch teurer geworden, blickt Fiegl zurück.

Als man nach dem endgültigen Produktionsende der Original-Lomo 2004 einen Neuanfang mit chinesischen Partnern wagte, musste man den Ingenieuren erst klarmachen, dass die Macken der Kamera ihre Besonderheit waren. "Sie wollten einen vom Staat vorgegebenen, technischen Standard durchsetzen und haben wochen- und monatelang mit uns gestritten." Ähnliches gab es bei einer Fabrik in Italien, die nur schwer zu überzeugen war, dass sie den Film verkehrt aufspulen sollte, da das eine besondere Bildästhetik ergebe. "Mit Grausen" hätten sie den offensichtlichen Fehler produziert. Auch die umtriebige Community hat ihre Geschichten hinterlassen, etwa in Form eines 50-jährigen deutschen Fleischers, der erzählte, wie er seine Fleischerei ausgeräumt habe, um mit Freunden eine Ausstellung zu organisieren.

Hat die Lomografie die Art vorweggenommen, wie man heute mit Handys fotografiert? Vielleicht bei einem Konzert, wo alle ihre Handys Richtung Bühne halten, antwortet Fiegl. Aber wer mache verkatert in der Früh Handyfotos von zufälligen Menschen im Bus?

Und was soll am Analogen überhaupt besser sein? Es hat wohl mit einem Entstehungsprozess zu tun, der nicht beliebig manipulierbar ist. Gerade durch ihre Zufälligkeit bewahren die Bilder eine gewisse Eigenständigkeit, eine Autorität gegenüber dem Künstler, dem Knipser. Man weiß nie, was genau man sehen wird. Die Malerei sei durch die Fotografie auch nicht ausgestorben, sagt Fiegl. Und die analoge Fotografie stirbt auch durch die digitale nicht aus. Zumindest nicht ganz. Nach dem Produktionsaus der Original-Lomo wollten wir in einer Umfrage wissen, ob wir eine digitale Lomo bauen sollten, erinnert sich Bibawy. "Die Antwort war fast zu 100 Prozent: analog, analog, analog!"     (Alois Pumhösel, Rondo, DER STANDARD, 2.11.2012)