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Antanas Mockus Sivickas versuchte als Bürgermeister mit unkonventionellen Ideen, etwa durch den Einsatz von Pantomime im öffentlichen Raum, die Lebensqualität in Bogotá zu verbessern.

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STANDARD: Sie haben als Bürgermeister von Bogotá einmal ein Superman-Kostüm angezogen, um für den "Superbürger" zu werben. Wie verhält sich ein Superbürger?

Mockus: Wir haben eine Verbindung zwischen dem "Helden" und der "Pflicht eines Bürgers" hergestellt. Schlecht ist etwa das Jaywalking, also wenn man die Straße überquert, ohne auf die Verkehrsregeln zu achten oder anderen Leuten nicht hilft, wenn sie blind sind. Wir haben also 350. 000 "Bürger-Karten" ausgegeben (Karten mit dem Daumen nach oben und nach unten, die Zustimmung und Missfallen für das Verkehrsverhalten ausdrücken, Anm. der Red.) Ein Jahr danach gab es klare Hinweise, dass sich die Situation verbesserte. So ist die Anzahl der Leute, die Sicherheitsgurte im Auto verwendet haben, von fast null auf 70 Prozent gestiegen.

STANDARD: Und das war wegen dieser Karten?

Mockus: Ja, und wegen der generellen Atmosphäre. Normalerweise konzentrieren sich Bürgermeister auf die Infrastruktur. Als mich einmal ein Journalist fragte, was mit den Löchern auf der Straße sei, habe ich gesagt: Ich wurde ernannt, um auf die Löcher im Kopf zu achten und nicht auf jene auf der Straße. Wir haben etwa die "Frauen-Nacht" organisiert, weil wir einen artifiziellen Raum und eine artifizielle Zeit schaffen wollten, in dem/der man sich sicher fühlt. Wenn dann da 700.000 Frauen sind und nur 200.000 Männer, kann man als Frau diese Erfahrung machen. Es geht darum, die vorläufige Dominanz der Utopie zu zeigen.

STANDARD: Heißt das, dass es nicht das Gesetz an sich ist, das Menschen zu etwas erzieht, sondern soziale Instrumente?

Mockus: Ja. Die rituelle Schlussformel am Ende eines kolumbianischen Gesetzes lautet: Veröffentliche und vollziehe es! Mein Traum ist, dass da steht: Veröffentliche es, erkläre es, verstehe es und vollziehe es! Ich glaube, viele Leute könnten mehr nach dem Gesetz leben, wenn sie es besser verstehen würden. Justiz und Polizei sind für die notwendig, die nach dieser Erziehung noch immer darauf bestehen, das Gesetz zu brechen. Wir müssen aber zuerst versuchen, das Gesetz ohne den Polizei- und den Justizapparat umzusetzen. Als ich nach meiner Sicherheitspolitik gefragt wurde, habe ich gesagt: Zuerst geht es darum, dass sich die Bürger nach moralischen Normen selbst steuern, mit Schuldgefühlen und so ...

STANDARD: Mit Schuldgefühlen? Lernt man eher über Emotionen als durch Überlegungen?

Mockus: Ja, eine der merkwürdigsten Erkenntnisse aus akademischer Sicht war, dass wir entdeckt haben, dass Regeln mehr mit Emotionen zu tun haben als mit Argumenten oder Interessen. Es gibt offensichtlich gute Gründe, dass man Regeln unterstützt. Und es gibt eine Art Gleichgewicht zwischen Interessen, die durch Regeln durchgesetzt werden können, und Regeln, die benutzt werden, um jemanden zu finden, der die Interessen anderer angreift. Aber wenn man so jemanden findet, dann kommt es zu Gefühlen von Schuld und manchmal Scham. Und Scham ist manchmal sehr gefährlich.

STANDARD: Weshalb?

Mockus: Weil Scham dazu führt, dass die Leute abschalten. Wenn Sie etwas sagen, was mir sehr weh tut, werde ich nicht mehr darauf achten, was Sie sagen, sondern mit Ächtung antworten.

STANDARD: Schuldgefühle haben also bessere Auswirkungen?

Mockus: Schuld ist spezifischer. Wenn man Scham fühlt, dann fühlt man sich als ganzes Wesen abgewertet. Schuld hingegen bezieht sich auf ein sehr konkretes Verhalten. Das heißt: Ich nehme dich weiterhin als volles menschliches Wesen wahr und hoffe, dass dir meine Kritik hilft, dass du dein Verhalten verbesserst und rebellierst. Manche können Schuld sehr leicht spüren.

STANDARD: Katholiken etwa?

Mockus: Ja, aber ich muss sagen, dass ich in Kolumbien nicht so viel Schuld wie erwartet gefunden habe. Der litauische Katholizismus, Nordeuropa ist stärker ...

STANDARD: ... vom Konzept der Verantwortlichkeit geprägt. Aber das kommt doch mehr aus dem Protestantismus, oder?

Mockus: Natürlich. Es ist komisch, meine Frau kommt aus einer sehr katholischen Familie, doch sie wurde niemals wegen ihres Intimlebens unter Druck gesetzt. Ich aber habe verschiedene Kirchen und Priester aufgesucht, um zu beichten. Nach meiner Erfahrung haben manche Europäer eine größere Distanz zwischen dem Geist und dem Körper. Eine litauische Tanzgruppe etwa hüpft nur. Das ist nicht die Sexualität der afrikanischen Tradition. Ich versuchte, eine Balance zwischen Pragmatismus und Hedonismus zu finden.

STANDARD: Als Bürgermeister?

Mockus:In meiner Arbeit an mir selbst und mit meinen Studenten. Als ich begann, Dinge jenseits von Mathematik zu unterrichten, haben Studenten eine Kommune gebildet mit allen Diskussionen über Geschlechterdifferenz. Der Held der Kommune war Antonio García. Er konnte sogar bügeln. Wir anderen Männer haben sehr gelitten wegen des Bügelns ...

STANDARD: Sie mögen Bügeln nicht?

Mockus:Überhaupt nicht.

STANDARD: Ich glaube, kein Mensch mag Bügeln.

Mockus:Antonio war sehr glücklich, dass er alle diese Diskussionen damit sehr effizient aufrechterhalten konnte.

STANDARD: Von welchen Konzepten ist Ihr Denken geprägt?

Mockus:Ich habe von mir verlangt, herauszufinden, wie man Solidarität ohne die Gefahr von Fundamentalismus bildet. Der Hauptbeitrag der logischen Mathematik in Lateinamerika ist die parakonsistente Logik, die besagt, dass es lokal keine Widersprüche gibt, aber global schon. In der parakonsistenten Logik kann man für jeden Punkt ein Netzwerk finden, wo es keine Widersprüche gibt.

STANDARD: Und dieses Konzept ist die Basis, um Solidarität bilden?

Mockus:Ich denke, dass die europäische Tradition, Beschränkungen gegen den Krieg einzubauen, eine Art Antwort darauf ist - oder auch die Menschenrechte. Man hat ein gemeinsames Verständnis, dass man nichts attackiert, was das Überleben der Zivilisation sichert. Manchmal träume ich, dass es viele tausende Jahre gebraucht hat, bis man entdeckt hat, dass die Erde lokal geplant, aber global versphärt ist. Ich glaube, wir versuchen zu entdecken, dass auch die Gesellschaft so ist. Aber wir haben viel zu lokale Erfahrungen, und nicht jeder hat die Möglichkeit, herumzureisen und Kontinuitäten zwischen Dingen zu entdecken, die scheinbar unvereinbar sind. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, 2.1.2012)