Seit nunmehr zweieinhalb Monaten protestieren Flüchtlinge in Wien für eine Änderung des Asylsystems im Allgemeinen und eine menschenwürdige Behandlung im Auffanglager Traiskirchen im Speziellen. Genauso lange arbeiten sich die meisten österreichischen Tagesmedien bereits mit der Präzision von Live-Tickern am Protest ab, pumpen jede neue Entwicklung rund ums Refugee Protest Camp Vienna schnellstmöglich in den Newsfeed, tragen die Punkte einen nach dem anderen auf der großen Zeittafel ein. Nur leider kommt man der Thematik mit ideologiebereinigten Eckdaten ebenso wenig näher bei wie mit ideologiegefärbter Meinungsmache.

Wider den inneren Stammtischphilosophen

Das Problem dieser Art von Berichterstattung zeigt sich am Deutlichsten dort, wo man am meisten mit Vorurteilen und Skepsis konfrontiert ist - an einem selbst. Als ich mir zum ersten Mal die Forderungen der Asylsuchenden durchlas, die auf der Website des Protestcamps aufgezählt werden, ging es mir wie vermutlich jedem zweiten Stammtischphilosophen. Neben den 6 Kernforderungen an die Politik (unter anderem Öffnung des Arbeitsmarktes, Bleiberecht für alle und Abschaffung der Dublin II-Verordnung, die Flüchtlinge effektiv an der Weiterreise hindert) findet sich hier auch eine Liste mit 16 Appellen der Bewohner vom Lager Traiskirchen. Ein Auszug aus den Ansprüchen: Zugang zu einem Friseur, freies Internet, Bereitstellung von Fernsehgeräten, gesünderes Essen und Tickets für den öffentlichen Verkehr. Vielen wird es beim Durchgehen der Liste schwerfallen, im definitiven Ton des "Diktats" nicht zumindest Dreistigkeit zu verorten. Ich persönlich war trotz inneren Widerstands jedenfalls geneigt, den Brachialkommentaren unter den Online-Artikeln zum Thema zuzustimmen: "Das ist leider die beste Wahlwerbung für die FPÖ" wurde da vielerorts mit Sadface konstatiert.

Die Berichte der Tagesmedien waren bemüht, dem ein Gegengewicht zu bieten. Leider taten sie das nur selten mit investigativem Anspruch oder durch ausführliche Hintergrundinformation, sondern größtenteils anhand einer fast schon fetischistischen Fixierung auf belanglose Datenmeldungen. Anstatt selbst die gedankliche Abkürzung zum Comment-Bereich in meinem Kopf zu nehmen, beschloss ich, mir eine andere Frage zu stellen: Worauf gründet sich meine Skepsis gegenüber den vermeintlich frechen Forderungen? 

Flüchtlinge im Orbit: Der Alltag in ihrer Heimat ist keiner

Denn in Wahrheit sind die "Wohlstandssorgen" existenzielle Probleme: Asylsuchende bekommen in Österreich - neben Unterkunft und Nahrungsmitteln - 40 Euro Taschengeld im Monat, werden vom bürokratischen Apparat meist ohne hinreichende Betreuung abgefertigt (Fragebogen-Ausfüllen statt Trauma-Bewältigung) und leben manchmal Monate und nicht selten Jahre im Limbus der Ungewissheit, wie und wo ihr Leben weitergeht. Der Alltag in ihrer Heimat ist keiner, das erfuhr ich im direkten Gespräch: zum Beispiel im Fall von Khan Adalat, einem der "Sprecher" der Flüchtlinge, der aus der pakistanischen Provinzhauptstadt Quetta kommt, wo allein an zwei Tagen im Jänner über 100 Menschen bei Bombenaschlägen ums Leben kamen. Ein weiterer Flüchtling, der 25-jährige Muhammed Numan, erklärt: "Du kannst dir unsere Situation nicht vorstellen. Wir haben nichts mehr zu verlieren."

Bei uns sitzen sie schließlich in Lagern, obwohl sie nichts verbrochen haben. Unverschämt erscheinen uns ihre Appelle nur, weil niemand die wahre Situation dieser Menschen kennt - weder im konkreten Lager von Traiskirchen, noch im Kampf mit Flucht, Vertreibung und dem Asylsystem allgemein. Ich selbst habe aus meinen Schnellschuss-Urteilen das Bedürfnis entwickelt, die Thematik bis ins Mark zu untersuchen und seither dutzende Gespräche mit Betroffenen, Unterstützern und Vertretern aus Politik und dem NGO-Umfeld geführt. Das Ergebnis brachte mir einige weiße Flecken weniger auf der Landkarte, aber deshalb noch lange kein kollektives Umdenken. Die Flüchtlinge sind noch da. Ihr Protest geht weiter. Sie sind im wahrsten Sinne Refugees im Orbit, die in ihrer Kapsel durch das politische Vakuum Wiens treiben, in festgeschriebenem Abstand zum Rest von uns.

Der Frontex-Grenzzaun in unseren Köpfen

Das Problem der Berichterstattung ist, dass die einzelnen Punkte durch Linien verbunden werden müssten. Aber man hat Angst vor dem Bild, das sie zeigen könnten - vor Geschichten, die von ihrem Anfang anstatt von ihrem Ende her erzählt werden müssten. Sinnvoller wäre Tiefgang bei ausgewählten Einzelthemen, und zwar ohne Angst davor, den aktualitätssüchtigen Newsmarkt damit nicht ausreichend zu bedienen, der nach täglichen Updates der Chronik schreit. Als Bertolt Brecht seinen ersten Zeppelinflug unternahm und die großen Arbeiterwerke vor Berlin aus der Luft sah, soll er der Erzählung nach erkannt haben, dass das objektive Bild niemals die wahren Probleme von Subjekten aufzeigen kann. Auch wir tun im Hinblick auf die Votivkirche gut daran, die Fotos und Fakten nicht wie Frontex-Stacheldrahtzäune an den EU-Grenzen zwischen uns und die Asylsuchenden zu schieben. (Markus Lust, Leserkommentar, derStandard.at, 01.02.2013)