Bild nicht mehr verfügbar.

Frankreich und Deutschland einmal am Boden: Schüler tragen die "Nationalfarben".

Foto: EPA

Bild nicht mehr verfügbar.

Sagt den Kindern Frankreichs eine große Zukunft voraus: Jacques Attali.

Foto: Reuters/Platieu

Standard: Deutschland und England, Spanien und Italien haben gewichtige Reformen angepackt - nur Frankreich zögert als letzte der großen EU-Nationen. Warum?

Attali: Frankreich ist ein reiches Land. Es hat zwar hohe Steuern und Abgaben, doch diese decken alle Bereiche ab, während in anderen Ländern die Kosten der privaten Vorsorge oder Versicherung dazuzurechnen sind. Damit wahrt Frankreich insgesamt - und obwohl es mehr Arme gibt - eine sehr hohe Lebensqualität. Das erklärt paradoxerweise Frankreichs Vorsicht gegenüber Reformen.

Standard: Was müsste Frankreich besser machen?

Attali: Ich habe 2008 in einem detaillierten Regierungsbericht 300 Änderungsvorschläge mit liberaler und sozialer Stoßrichtung unterbreitet. Für die Umsetzung dieser Staats-, Universitäts- und Wirtschaftsreformen fehlt aber der politische Mut. Das heißt aber nicht, dass Frankreich am Abgrund steht. Schauen Sie nur die Zinsen an - für zehnjährige Anleihen zahlt Frankreich so wenig wie nie, viel weniger als Italien oder Spanien. Das ist ein klarer Vertrauensbeweis der Märkte. In Europa kommt die falsche Idee auf, Frankreich sei Europas "kranker Mann" . Wenn, dann ist es Deutschland.

Standard:  Ach so? Deutschland gilt doch vielen Franzosen als Vorbild.

Attali: Konjunkturell vielleicht. Langfristig steht Deutschland aber vor einem schwerwiegenden Problem - seiner katastrophalen Bevölkerungsstruktur. Die Deutschen machen keine Kinder mehr. In dreißig Jahren wird Frankreich Deutschland überholt haben, was die Zahl der Einwohner betrifft (derzeit gibt es 82 Millionen Deutsche, 66 Millionen Franzosen, Anm.). Eines Tages wird Deutschland nicht mehr genug Junge haben, um sein Rentensystem zu finanzieren. Und ich wünsche mir nicht, dass die Franzosen dann für die Renten der Deutschen aufkommen müssen.

Standard:  Derzeit hat Berlin die Staatsfinanzen inklusive Rentensystem allerdings besser unter Kontrolle als Paris.

Attali: Die Staatsausgaben sind überall in Europa zu hoch. Aber ich bin dagegen, die Ausgaben für die Familienpolitik zu senken.

Standard:  Heute sind die Löhne in Frankreich höher als in Deutschland. Vor zehn Jahren war es umgekehrt. Frankreich hat seither fast eine Million industrieller Arbeitsplätze verloren. Liegt das Kernproblem Frankreichs nicht dort?

Attali:Die Regierung in Paris packt das Problem der Wettbewerbsfähigkeit nun an. Sie macht sich auch vorsichtig an eine Arbeitsmarktreform. Damit verglichen ist die deutsche Konkurrenzfähigkeit sicher beeindruckend. Aber sie beruht auch auf zwei künstlichen Faktoren - der Mehrwertsteuerpolitik und Deutschlands Nähe zu Osteuropa, das heißt zu Billiglohnarbeitern aus Polen.

Standard:  Ist der freie Personenverkehr in der EU ein Problem?

Attali: Ich würde sagen eine Gefahr. Ich bin gegen die Bolkestein-Direktive, die es polnischen Arbeitern ermöglicht, mit polnischen Verträgen in Deutschland oder Frankreich zu arbeiten. Das zerstört alle Sozialregeln. Wie in Steuerfragen muss auch im Arbeitsrecht das Wohnsitzprinzip gelten.

Standard: Frankreich hat aber ein anderes Problem: Renault schafft Fabriken nach Spanien, wo Arbeiter 30 Prozent billiger sind.

Attali:  Es stimmt, die französische Handelsbilanz verliert nicht nur gegenüber Deutschland, sondern auch gegenüber Spanien an Boden. Ein Grund liegt darin, dass diese Länder Wettbewerbsreformen vorgenommen haben, Frankreich aber nicht - diesbezüglich herrscht auch in Paris Einigkeit. Nur deshalb sollte Frankreich aber nicht das deutsche oder spanische Billiglohnvorbild übernehmen. Besser ist der österreichische Ansatz mit einem flexiblen Arbeitsmarkt. Man soll leichter kündigen können, Arbeitslose aber besser schützen.

Standard:  Vertreibt Frankreich nicht viele kreative Investoren und Unternehmen, indem es, wie unter François Hollande geschehen, Millioneneinkommen mit bis zu 75 Prozent besteuern will?

Attali: Diese Steuer, vom Verfassungsgericht abgewiesen, wird revidiert. In Frankreich besteht weiter Konsens, dass alle nach ihren Möglichkeiten einen Beitrag zum Aufschwung des Landes leisten sollen - auch Gutverdiener.

Standard:  Wie beurteilen Sie Hollandes erstes Halbjahr im Elysée aus wirtschaftspolitischer Sicht?

Attali: Er hat die Weichen richtig gestellt. Auf europäischer Ebene hat er es geschafft, die Tendenz zur Wachstumspolitik umzukehren, nachdem die Regierungen in Berlin und London voll auf Austerität gesetzt hatten. Zugleich hält Hollande eisern Haushaltsdisziplin. Er macht Schulreformen, sucht die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern - alles gute Ansätze.

Standard:  Bewegt Hollande letztlich mehr als sein hyperaktiver Vorgänger Nicolas Sarkozy?

Attali:Durchaus. Ich bedaure, dass Sarkozy nicht mehr Reformen angepackt hat. Jetzt ist die Linke an der Macht. Ich bleibe optimistisch für Frankreich, weil Europa trotz allem Form annimmt, Frankreich bevölkerungsmäßig stark wächst und seine Exportkraft wieder finden wird. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 2.2.2013)