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Ilija Trojanow: "Es ist skandalös, dass die EU in all diesen Jahren es versäumt hat, auf mehr Wandel zu drängen."

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Die Jungen suchen ihre Chance im EU-Ausland, die Alten bleiben zurück.

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Auch sechs Jahre nach dem EU-Beitritt leben 52 Prozent der Bulgaren unter der Armutsgrenze. Die Jungen verlassen in Scharen das Land, weil sie keine Arbeit finden. Das Durchschnittsgehalt liegt bei etwa 300 Euro netto im Monat. Seit mehr als drei Wochen rufen Menschen auf der Straße nach einem Systemwandel. Und obwohl die Regierung von Ministerpräsident Boiko Borissow zurückgetreten ist, gehen die Demonstrationen weiter.

Bulgarien, sagt der in Sofia geborene Schriftsteller Ilija Trojanow, sei ein "Lost Case". Seiner Meinung nach können auch Proteste und Neuwahlen an den verfilzten, mafiösen Strukturen im Land nichts ändern.

derStandard.at: Trotz des Rücktritts der rechten Regierung von Boiko Borissow gehen die Proteste in Bulgarien weiter.

Trojanow: Ja. Gemessen an der Zahl der Leidenden und Hungernden in diesem Land gehen aber immer noch sehr wenige Menschen auf die Straße. Die Hälfte der Menschen in Bulgarien leben in wirklicher Armut. Sie haben nicht ausreichend zu essen, können Strom und Heizung nicht bezahlen. Die Proteste sind, gemessen an der Brutalität der sozialen Ungerechtigkeit, also relativ zahm.

derStandard.at: Warum hat sich an dieser sozialen Ungerechtigkeit seit dem EU-Beitritt 2007 nichts geändert?

Trojanow: Das typische Problem der postsozialistischen Gesellschaften ist, dass es keinen Bruch mit den verknöcherten und verfilzten Strukturen gab, die schon vor 1989 herrschten. Die aktuelle Oligarchie hat nicht nur weiterhin fast alle Fäden in der Hand, sondern hat sich mittlerweile in eine international vernetzte Mafia verwandelt, mit starken ökonomischen Verbindungen zu Russland. Politisch gesehen ist man ein artiger Partner der geostrategischen Interessen der USA. Es gibt eine amerikanische Basis, Bulgarien war in Afghanistan beteiligt et cetera.

Ernst zu nehmende demokratische Strukturen existieren in Bulgarien nicht. Es ist skandalös, dass die EU es in all diesen Jahren versäumt hat, auf mehr Wandel zu drängen. Auf dem Papier existieren zwar Standards, aber wirklich gekümmert hat sich niemand darum. Ich kann mich erinnern, dass ich zufällig in Sofia war, als der damalige italienische Außenminister Franco Frattini die Fortschritte Bulgariens begutachtete. Er zeigte sich sehr zufrieden. Das war absurd.

Ob das politischer Wille ist oder einfach nur Korruption, kann ich nicht sagen. Fakt ist, dass die EU es vollkommen versäumt hat, Bulgarien dazu zu zwingen, diese Standards einzuführen. Und wenn die EU-Bürger das Gefühl haben, sie müssen für das Wohlergehen der bulgarischen Bevölkerung mitzahlen, dann muss man sagen: Sie zahlen für das Wohlergehen der bulgarischen Mafia. Ein einfacher Bürger hat überhaupt keine Chance, an die EU-Töpfe heranzukommen.

derStandard.at: Was bedeutet das alles für die Bürger im Alltag?

Trojanow: Im Alltag wird derjenige, der keine Beziehungen hat, völlig durchherrscht. Die Leute finden es zum Beispiel lachhaft, wenn man ihnen vorschlägt, wegen einer Ungerechtigkeit vor Gericht zu gehen. Im Sinne des plutokratischen Systems bekommt nur derjenige Recht, der das Sagen hat. Und es gibt überhaupt keine ökonomischen Chancen. Ich war vergangenen Sommer für die Recherche zu meinem neuen Buch im Süden Bulgariens, unweit der Grenze zu Griechenland und der Türkei. Dort besteht die einzige wirtschaftliche Chance darin, ins EU-Ausland zu gehen. Die Provinz in Bulgarien verödet damit völlig. Ganze Regionen sind leer oder überaltert. Ich war in einem Dorf, da war die Bürgermeisterin mit über 60 Jahren die Jüngste.

derStandard.at: Boiko Borissow hat keine wirtschaftlichen Probleme, er soll einige Millionen schwer sein. Wie weit reichen die mafiösen Strukturen?

Trojanow: In Bulgarien gibt keinen Unterschied zwischen Staat und Mafia. Borissow selbst hat die Hochschule der Stasi besucht und war Bodyguard des Diktators Todor Christow Schiwkow (an der Macht 1954 bis 1989, Anm.) und noch dazu stolz darauf. Seine Partei "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" hat Borissow aus dem Nichts geschaffen, woher die Gelder kamen, ist nicht bekannt. Das ist eine exemplarische Biografie in Bulgarien.

derStandard.at: Borissows Großvater wurde allerdings von den Kommunisten getötet.

Trojanow: Ja, das hat er immer vor sich hergetragen und sich damit politisch als antikommunistisch positioniert. Ich bin dafür, dass man Politiker an ihren Handlungen misst.

derStandard.at: Borissow beschuldigte die Sozialisten, hinter den aktuellen Massenprotesten zu stecken. Sie hätten seine Regierung mit einem "Putsch der Straße" gestürzt. Ist die Empörung gesteuert?

Trojanow: Verschwörungen sind in Bulgarien das ABC des politischen Umgangs. Was man allerdings merkt, ist, dass die Proteste keinerlei politische Stoßrichtung haben. Sie sind getragen von Verzweiflung und weniger von politischem Sachverstand. Die Gewerkschaften sind völlig kontrolliert. Egal, was für eine Opposition sich im Land hält, die Herrschenden haben dort schnell ihre Leute drinnen und unterstützen finanziell. Auch die größte außerparlamentarische Opposition wird vom derzeit reichsten bulgarischen Oligarchen finanziert, von Alexej Petrow.

derStandard.at: Werden die Proteste also nichts bringen?

Trojanow: Nichts Gravierendes. Um die Herrschenden zu wirklichen Veränderungen zu zwingen, müssten die Proteste massiver sein. Es bringt auch nichts, wie Demonstranten unter anderem fordern, internationale Monopole abzuschaffen. Die nationalen Monopolstrukturen würden weiter bestehen bleiben. Wenn jemand verantwortlich ist für die Misere in Bulgarien, dann sind das die heimischen Eliten. Ich frage mich wirklich, was sich die Regierung dabei gedacht hat, diese Strompreise bei den Durchschnittsgehältern zuzulassen. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 1.3.2013)