"Als wir in Varanasi ankamen, war ich so entsetzt, dass ich eigentlich sofort wieder zurückwollte. (...) Inzwischen kann ich mir das Leben - gerade hier in der Provinz in Kärnten - ohne Indien gar nicht mehr vorstellen": Josef Winkler.

foto: christina schwichtenberg

Ich wusste, dass mir nur mehr der Vater, der verhasste Ackermann aus Kärnten, helfen konnte. Ich stellte mir vor, dass ich eine Rückkehr des verlorenen Sohnes schreiben werde.

Zwischen Klagenfurt und Venedig hin- und herpendelnd, habe ich damals im Jahre 1978 innerhalb von einem guten halben Jahr meinen ersten Roman Menschenkind geschrieben. Es ist eigentlich kein Roman im klassischen Sinne, sondern eine Zustandsmetapher. Ich konnte damals noch nicht erzählen, es war ein Wortrausch, eine Wortdroge, die ich voll und ganz ausgekostet habe. Ein Germanistikprofessor hat damals zu mir gesagt, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn ich mir nach der Niederschrift dieses Textes das Leben genommen hätte.

Zu erzählen begonnen habe ich dann in meinem zweiten Roman Der Ackermann aus Kärnten, obwohl ich teilweise auch bei der Niederschrift dieses Textes die Schreibmethode der Surrealisten angenommen habe, das automatische Schreiben, wo das eine Wort das andere ergibt und mögliche Inhalte, falls man diese dingfest machen kann, mitgeschleppt werden als scheppernde Dose am Schwanz der Unglück bringenden schwarzen Katze.

Das Leben habe ich mir bis heute noch nicht genommen, aber was nicht ist, das kann noch werden. Ich habe damals, als ich die Romantrilogie Das wilde Kärnten geschrieben habe, fast täglich an Selbstmord gedacht, es ist eine Sucht nach diesen täglichen Gedanken entstanden, sodass ich dann im dritten Teil der Trilogie, im Roman Muttersprache, nachdem ich offenbar einiges durch das Nieder-Schreiben übertaucht hatte, schrieb: Plötzlich deprimiert, weil ich seit einiger Zeit keine Selbstmordgedanken mehr habe. In der Zwischenzeit ist also wiederum Zeit vergangen, und jetzt heißt es so: In letzter Zeit habe ich nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen, weil ich nur mehr ganz selten an Selbstmord denke, aber es werden diese alten Zeiten - alle alten Zeiten sind gut - auch nicht wiederkommen, die mich veranlassten, in mein Tagebuch am Lido in Venedig zu schreiben, dass ich dann und wann richtig traurig bin, weil ich seit einiger Zeit keine Selbstmordgedanken mehr habe.

Nach der Niederschrift der Trilogie hatte ich die Sprache verloren, ich konnte nicht mehr schreiben, es war kein Wort-Stoff mehr greifbar. Ich führte mein elend-glamouröses Schriftstellerleben in Rom, Berlin, Paris, aber ich konnte nicht mehr schreiben. Da habe ich mich entschlossen, zu meinem Erzfeind zurückzukehren, zu meinem Vater ins Dorf Kamering, das ich, wie es in der Dorf-Gemeinschaft hieß, kaputt-geschrieben habe. Ich wusste, dass mir nur mehr der Vater, der verhasste Ackermann aus Kärnten, helfen konnte. Ich stellte mir vor, dass ich eine Rückkehr des verlorenen Sohnes schreiben könnte. Mein Vater empfing mich - biblisch - mit offenen Armen. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt, ich half ihm im Stall, auf dem Feld, im Wald. Ich hatte immer Bleistift und Papier bei mir und schrieb auf, was er mir erzählte. Mehrere Jahre lang sammelte ich das Material, und dann begann ich mit der Niederschrift der Heimkehr des verlorenen Sohnes, die unter dem Titel Der Leibeigene erschien. Ich habe den Titel gewählt, weil ich auf ein Gedicht des Barockdichters Jakob Ayrer stieß, in dem es heißt: "Ich bin doch des todes leibeigen, und es kann anders werden nicht!" Ich hätte den Roman " des todes leibeigene" nennen müssen, ich war berauscht von diesem Ayrer-Satz. Der Leibeigene ist, glaube ich, mein existenziellstes Buch.

Während dieser Rückkehr auf den elterlichen Bauernhof, wo ich mir als fast 30-Jähriger die Kindheit bei meinem Vater wiederholt habe, die er mir als Kind nicht vergönnen wollte oder konnte, habe ich mir die Goldene Brücke zum Weiterschreiben gebaut. Damals, vor meiner Rückkehr auf den elterlichen Bauernhof, hatte ich geglaubt, dass jetzt alles vorbei sei und ich nie mehr werde schreiben können.

Mit meiner Rückkehr auf den elterlichen Bauernhof hatte ich mich also existenziell stabilisieren können. Ich ahnte, dass ich nach dieser Geschichte wohl werde weiterschreiben können, aber mir neuen Stoff suchten müsste. Ich wusste, dass ich wieder auf Reisen werde gehen müssen. Anstatt nach Paris oder London ging ich nach Rom. Ich kannte die katholische Kirche im Kleinen, im Muff der Kameringer Sakristei, und wollte die katholische Kirche im Großen kennenlernen. Ich habe Rom Paris oder London auch deswegen vorgezogen, weil ich die Vorstellung hatte, dass ich in Rom auch leichter meinen Schreibstoff finden könnte, im katholischen Milieu, das ich kannte, und in dem ich mich auf sichererem Terrain befand, um in einer literarischen Sprache weiterschreiben zu können. Es war, wie es sich herausstellte, die richtige Wahl.

Nach einer Lesung in Rom in der deutschen Herder-Buchhandlung habe ich dann Frau Schwichtenberg kennengelernt, mit der ich inzwischen seit über 25 Jahren verheiratet bin. Sie hat damals an ihrer Dissertation gearbeitet, ich begann mit den Recherchen zum späteren Rom-Roman Friedhof der bitteren Orangen. Ohne Frau Schwichtenberg wäre ich schon seit über 20 Jahren unter der Erde. Was vielleicht auch nicht schlecht wäre, denn wer weiß, wie ich mich umgetrieben hätte, und ich würde vielleicht jetzt als neuer Papst wieder auftauchen. Inzwischen haben wir zwei Kinder.

Meine Frau war als Kind fast fünf Jahre in Indien. Wir beschlossen, ihre ehemalige Heimat aufzusuchen. Als wir in Varanasi ankamen, war ich so entsetzt, dass ich eigentlich sofort wieder zurückwollte, gleich am nächsten Tag mit dem nächstbesten Flugzeug, ob tot oder lebendig. Am ersten Abend im Hotel weinte ich, weil ich sofort wieder weg wollte, wusste aber, dass ich nicht konnte, sie begann ebenfalls zu weinen, weil sie Angst hatte, dass wir vielleicht doch wieder schnell zurückfahren. Aber am nächsten Tag - ein Rückflug war aussichtslos - ging ich mit meiner Füllfeder und mit meinem Notizbuch das Gangesufer entlang und begann aufzuschreiben und aufzuzeichnen. Inzwischen kann ich mir das Leben - gerade hier in der Provinz in Kärnten - ohne Indien gar nicht mehr vorstellen.

Mit der Familie war ich nicht nur in Indien, wir waren auch in Japan und in Mexiko. Ich kann nur reisen, wenn ich gleichzeitig ein Tagebuch anfertige. Bei der Vorstellung, dass ich nichts aufschreiben kann, möchte ich gar nicht reisen. Was ich sehe, schreibe ich an Ort und Stelle auf und halte es dadurch fest, und auch ich halte mich dadurch und daran fest. Die Bilder, die Beobachtungen, rinnen mir nicht durch die Finger, ich habe sie in meinen Notizbüchern fest- und aufgehalten. Ich kann mich an nichts erinnern, ich merke mir ohne Aufzeichnungen nichts, aber wenn ich ein Tagebuch von mir aus Indien oder Mexiko zur Hand nehme und es wieder lese, kann ich mich fast an jedes einzelne Bild erinnern, nehme sogar die Gerüche wahr und kann dann mit diesem Tagebuchmaterial eine Geschichte schreiben.

Praktisch funktioniert die Recherche so: Ich bin mit der ganzen Familie, wie im vergangenen Sommer, im indischen Pune unterwegs, halte immer meine Füllfeder und mein Notizbuch in der Hand, bleibe stehen, schreibe auf, manchmal länger, manchmal kürzer, und die in der Stadt oder wo auch immer mitzottelnde Familie wartet auf mich an irgendeiner Straßenecke, manchmal natürlich auch genervt, wenn es zu lange dauert. So fülle ich Notizbuch über Notizbuch. Es existieren in der Zwischenzeit über 30 Notizbücher aus Indien, Mexiko, Italien, Spanien, die noch unausgearbeitet sind.

Momentan arbeite ich an einem surrealen Gedichtzyklus mit dem Titel Die Angst des Himmels vor Julien Greens Auferstehung, inspiriert vom Prinzip des Surrealismus, unbewusste Ängste und Begierden auf überraschende Weise sichtbar zu machen. Es ist auch eine Suche nach neuen, oder bescheidener ausgedrückt, ungewöhnlichen Sprachformen im Sinne von Handkes Satz: "Mein einziges Talent ist seit jeher die Sehnsucht gewesen; zum Beispiel habe ich nie schreiben können, als Können ..." Und, was die Radikalität betrifft, habe ich oft den Satz von Paul Valéry vor Augen: "Man darf nicht zögern, das zu machen, was einem die Hälfte seiner Anhänger kostet und die Hälfte der Liebe derer, die noch übrig sind." (Wilhelm Huber, Album, DER STANDARD, 2./3.3.2013)