Handzeichen fürs gegenseitige Verstehen.

Foto: Verein Kinderhaende

Bei "kinderhände" arbeiten Eltern mit ihren Kindern.

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Der spielerische Zugang steht im Vordergrund.

Foto: Verein Kinderhaende

Tritt man vom dunklen Stiegenhaus in die hellen Räume des Vereins "kinderhände", wähnt man sich in einer ganz normalen Spielgruppe: Kinder in bunten Hosen flitzen glucksend durch die Gänge, Mütter und Väter stehen plaudernd in Grüppchen beisammen, an den Wänden hängen Kinderzeichnungen. Im Eingangsbereich versucht ein Elternpaar Mitte dreißig gerade mit vereinten Kräften, seiner kleinen Tochter eine rote Jacke anzuziehen. Doch das Mädchen mag noch nicht gehen, es sträubt sich mit Händen und Füßen. Eine beiläufige Szene, die man kaum registriert - und an der doch irgendetwas irritiert. Was es ist, merkt man beim genaueren Hinsehen: Das Mädchen schreit nicht, es weint nicht und zetert nicht, es protestiert nicht hörbar gegen das Nachhausegehen. Das Kind ist gehörlos. Es drückt seinen Unmut lebhaft mit den Händen aus.

Der von der Pädagogin Andrea Rohrauer und gehörlosen Illustratorin Barbara Schuster gegründete und in der Wiener Schönbrunnerstraße ansässige Verein "kinderhände" bietet seit 2005 Gebärdesprachenkurse für Kinder und Eltern an - als Österreichs einzige Einrichtung dieser Art. Mädchen und Buben zwischen sechs Monaten und 14 Jahren lernen hier unter professioneller Anleitung voneinander und miteinander. Der Verein ist auch Ort für Information, Austausch und zum gegenseitigen Kennenlernen. Regelmäßig finden hier Spielgruppen, Feste und Eltern-Kind-Cafés statt.

Auch hörende Kinder profitieren

"Gehörlose Kinder haben zu ca. 95 Prozent hörende Eltern", erzählt Katharina Schalber, Sprachwissenschafterin und Mitarbeiterin bei "kinderhände". "Viele gehörlose Kinder haben hörende Geschwister und können als einzige in ihrer Familie  nicht oder kaum hören." Diese Kinder lernen hier, sich mithilfe der Gebärdensprache mit ihrer Familie und ihren Freunden selbstbestimmt auszutauschen. Auch den umgekehrten Fall gibt es hier - dass die Kinder hören können und die Eltern gehörlos sind. Und sogar Kinder, die ganz normal hören können, lernen hier, sich mittels Gebärden auszudrücken. Doch warum sollte ein Mensch, der ganz normal hören kann, die Gebärdensprache lernen wollen?

"Für hörende Menschen ist die Gebärdensprache eine ganz neue Welt", sagt Schalber. Von der vor allem Kinder immens profitieren können. "Wer früh lernt, Augen und Bewegungen zu koordinieren, ist kognitiv und motorisch im Vorteil." Als visuelle Sprache können Gebärden eine Brücke zu den eigenen Emotionen und Gefühlen sein. "Damit können Babys und Kleinkindern kommunizieren, noch bevor sie richtig sprechen können." Das verringere die Frustration des nicht Verstandenwerdens und führe zu mehr Ausdrucksvermögen. "Immer wieder erzählen uns Eltern, dass ihre Kinder schon mit einem Jahr sehr klar ausdrücken können, was sie wollen - unabhängig davon, ob sie gehörlos sind oder nicht."

Gebärden als "Erstsprache"

Heute weiß man, dass das Beherrschen einer Erstsprache die Basis für gelungenes Kommunizieren und das Erlernen weiterer Sprachen ist. "Die Erstsprache ist für gehörlose Kinder natürlich keine Lautsprache", sagt Schalber. "Für sie ist es schwierig, eine Lautsprache ungesteuert zu erwerben. Daher ist der Zugang zu einer visuellen Sprache, einer Gebärdensprache, so wichtig."

Dass Kinder durch die Gebärdensprache sprechfaul werden, sei eine Mär, sagt Sprachwissenschafterin Schalber. Das Gegenteil sei der Fall: "Hörende Kinder beginnen durch die Kommunikation mit Gebärden meist früher zu sprechen und bauen ihren Wortschatz schneller auf als Kinder, die Sprache rein verbal und nicht visuell vermittelt bekommen."

Nach dem ersten Schock

In Österreich leben etwa 500.000 Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung, etwa 10.000 davon sind gehörlos. Bei Kindern wird Gehörlosigkeit manchmal erst spät entdeckt. Wenn die ersten Wörter mit zwei Jahren noch ausbleiben, denken sich viele Eltern zunächst nichts dabei. Hinter der vermeintlich verzögerten Sprachentwicklung kann jedoch Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit stecken.

"Natürlich ist das zunächst ein Schock", sagt Katharina Schalber. Viele Eltern gehörloser Kinder seien dann hilflos und werden im Spital oft schlecht über ihre Möglichkeiten informiert. Hier will "kinderhände" weiterhelfen. Die Kurse in der Schönbrunnerstraße werden bilingual gestaltet - also mit je einer gehörlosen und einer hörenden Trainerin. Der Verein beschäftigt auch gehörlose Trainerinnen, die zu den Familien nach Hause kommen und dort das gehörlose Kind unterstützen. Eine davon ist Ilona Seifert. Sie ist selbst gehörlos.

Die Kinder werden selbstbewusster

Wie sich Kinder verändern, die Gebärden lernen? "Mimik und Gestik werden reichhaltiger, und die Kinder werden selbstbewusster", erklärt Seifert. "Es macht schließlich einen Unterschied, ob man die Mama anweinen muss oder ihr konkret mitteilen kann, was man möchte." Bei "kinderhände" geht es jedenfalls sehr spielerisch und ohne Zwang zu - die Gebärdensprache existiert hier gleichberechtigt neben der gesprochenen Sprache. "Es geht uns um Austausch und Kommunikation, auf allen Ebenen. Wir wollen vermitteln, dass beide Sprachen schön und legitim sind." Und ganz nebenbei werden hier täglich Freundschaften geschlossen. Im Handumdrehen, quasi.

Das gehörlose kleine Mädchen mit der roten Jacke hat seine Eltern übrigens schnell überzeugt, dass es noch ein wenig bleiben möchte. Die Eltern blicken sich kurz an, seufzen ein bisschen und entscheiden dann gemeinsam, dass es eigentlich eh noch nicht so spät ist. (Lisa Mayr, derStandard.at, 1.3.2013)