Social Media, Onlinespiele und Glücksspiele erzeugen laut dem Psychologen Kurosch Yazdi Verhaltenssucht, weil sie mit dem Bedürfnis des Menschen nach Beziehungen spielen.

Fotos: Privat, apn

STANDARD: Was unterscheidet Verhaltenssucht bei sozialen Medien, Internet und Computerspielen von bisherigen Medien und Kulturtechniken?

Kurosch Yazdi: Der riesige Unterschied ist die Interaktivität. Bei Medien, bei denen ich nicht interaktiv beteiligt sein kann, ist das Suchtpotenzial bei weitem niedriger. Ein Beispiel aus dem Glücksspielbereich: Bei früheren Spielautomaten, einarmigen Banditen, haben Sie eine Münze eingeworfen und der Automat zeigte später an, ob Sie gewonnen oder verloren haben. Dann wurden Geräte entwickelt, bei denen der Konsument eine scheinbare Möglichkeit der Beeinflussung hat. Sie können etwa auf eine Stopptaste drücken und dann bleiben die Symbole stehen. Es bleibt Zufall, aber der Konsument hat den Eindruck, er kann den Spielausgang beeinflussen. Diese Automaten machen noch süchtiger. Interaktivität erhöht das Suchtpotenzial. Das gilt für Glücksspiele genauso wie für Online-Rollenspiele und Social Media.

STANDARD: Bei Social Media sitzen zumindest richtige Menschen am anderen Ende der Leitung.

Yazdi: Das sind nur Pseudobeziehungen. Je mehr mir vorgegaukelt wird, dass ich Beziehungen aufbauen kann, desto höher ist das Suchtpotenzial. Der Mensch ist ein Rudeltier. Wir brauchen Beziehungen für unser psychisches Überleben. Das ist bei Social Media das Teuflische: Es wird mir vorgegaukelt, dass meine 700 Facebook-Kontakte richtige Freunde sind. Vielen Jugendlichen ist es wichtiger 700 Facebook-Freunde zu haben als drei wirkliche. Zumal die drei wirklichen Freunde viel anstrengender sind. Im Internet kann ich mich darstellen, wie immer ich will. Ich kann mich sehr leicht attraktiv und interessant machen. Im echten Leben ist das anstrengend und oft nur schwer möglich. Wenn ich meine Beziehungsfähigkeit im echten Leben nicht übe, geht sie verloren.

STANDARD: Wie kann Sucht bei Facebook überhaupt entstehen?

Yazdi: Bei der Verhaltenssucht gilt grundsätzlich das gleiche wie bei substanzgebundenen Süchten wie Alkohol: Süchtig kann ich nur von jenen Dingen werden, die mein Belohnungszentrum stimulieren. Jedes Säugetier hat ein Belohnungszentrum, in dem Dopamin ausgestoßen wird, wenn ich plötzlich glücklich werde. Nur von Dingen, die mich glücklich machen können, kann ich abhängig werden. Ich werde nie abhängig werden vom Schuhe zubinden, obwohl ich das täglich ein, zwei Mal mache.  Der Glückszustand muss nicht in der extremen Form eines Rauschzustands vorhanden sein. Es reichen auch kleine Glücksmomente, die ich gar nicht als Euphorie wahrnehme, aber im Gehirn ein kleiner Dopaminausstoß stattfindet. Das ist bei Facebook vielleicht der Fall, wenn ich sehe, dass ich über Nacht mehr Freunde bekommen habe, weil ich so interessante Sachen poste.

STANDARD: Was unterscheidet einen von Verhaltenssucht geprägten Gebrauch vom normalen Internet-Gebrauch?

Yazdi: Das sind die üblichen Suchtkriterien, die bei jeder Sucht zutreffen, egal ob Heroin, Alkohol, Social Media oder Glücksspiel. Ein Suchtkriterium ist Kontrollverlust: Wenn ich mir vornehme, ich spiele heute nur zwei Stunden, weil ich am nächsten Tag für die Schule ausgeschlafen sein muss, letztlich aber wieder die ganze Nacht durchspiele. Das ist bei Zigaretten auch so: Menschen nehmen sich vor, heute rauche ich beim Fortgehen nur zwei Zigaretten und dann ist ein ganzes Packerl weg. Der nächste Punkt: Ich schade mir selbst oder meiner nahen Umgebung.

Wenn jemand 17 Stunden am Tag twittert oder "World of Warcraft" spielt, dann schädigt er sich. Er geht nicht in die Schule, nicht in die Lehre. Zu mir kommen viele Studenten, die schon seit Jahren nicht mehr studieren, sondern "World of Warcraft" spielen. Der fällt um seine Ausbildung, um seinen Job um. Er schädigt sich selbst. Der nächste Punkt ist, dass man trotz Leidensdruck weitermacht. Das gilt auch für Facebook- oder Twitter-Süchtige.

Eine meiner Patientinnen hat 17 Stunden am Tag getwittert. Das fand sie auch selbst nicht lustig. Sie hat aber immer wieder reinschauen müssen. Sie hat sich in der Nacht einen Wecker gestellt, damit sie jede Stunde nachsehen kann. Das nächste Kriterium sind Entzugserscheinungen. Die können auch psychischer Natur sein: Gereiztheit, Nervosität, Anspannung, Schlafprobleme. Das sind die Hauptkriterien einer Suchterkrankung und die müssen zutreffen, damit ich es als Sucht bezeichnen kann. Das Erfüllen von ein oder zwei Kriterien entspricht einer Gefährdung - das, was man beim Alkohol Missbrauch nennt. Erst wenn viele Kriterien zutreffen, spricht man von einer Suchterkrankung. Und dann gibt es noch das Kriterium, dass ich die Verhaltensweise über dem Maß, das als gesellschaftlich normal gesehen wird, ausüben muss. Das gilt für alle Süchte, auch für Alkohol. Jemand, der ein Achterl Wein am Tag trinkt, kann in Österreich nicht als Alkoholiker bezeichnet werden.  Im Iran, wo ich herkomme, gilt so jemand als Alkoholiker. Dort ist es nicht gesellschaftliche Norm. Dort gibt es dafür viele Heroinsüchtige.

STANDARD:  In Südkorea mit seiner ausgeprägten digitalen Kultur gilt man also weniger schnell als onlinesüchtig?

Yazdi: Ja. Als ich einem südkoreanischen Kollegen von unseren Jugendlichen erzählte, die sechs Stunden pro Tag spielen, meinte er: Das ist ganz normal. Also auch die Frage, wie kulturadäquat eine Sucht ist, trägt dazu bei, ob ich es als Krankheit bezeichnen kann. Das ist auch von der WHO so definiert. Bei klassischen Süchten wie Alkohol kann ich relativ leicht definieren, was kulturadäquat ist. Bei Social Media, wo die Norm sich von Jahr zu Jahr nach oben hin verändert – wie will man da festmachen, ob jemand süchtig ist?

STANDARD: Ist man im virtuellen Umfeld für Verhaltenssucht anfälliger als im nicht-virtuellen?

Yazdi: Ja, eindeutig. Nehmen wir an, ich habe einen Patienten, der kaufsüchtig ist, eine ältere Frau, die nur in Geschäften einkauft. Da treffen auch Suchtkriterien zu, aber sie muss sich wenigstens an die Ladenöffnungszeiten halten. Ich habe jüngere Menschen mit Kaufsucht, die das vom Klo aus übers Smartphone machen. Die können rund um die Uhr einkaufen. Das wird viel problematischer, denn wenn ich das ständig machen kann, wenn die Ereignisfrequenz höher ist, werde ich viel schneller süchtig.

Das ist auch der Grund, warum man vom Lotto nicht abhängig wird, vom kleinen Glücksspiel aber schon. Wenn ich auf mehreren Automaten gleichzeitig spiele, bekomme ich alle 20 Sekunden ein Ergebnis. Online kann ich die Ereignisfrequenz immer weiter hochtreiben. Ich habe Glücksspielsüchtige, die spielen online auf vier verschiedenen Plattformen gleichzeitig. Analog dazu gibt es Leute, die vier verschiedene Social-Media-Kanäle gleichzeitig offen haben. Man kann online die Verhaltenssucht extremer betreiben. Mit dem Smartphone kann ich es überall machen. Und wenn ich ein Bedürfnis zu sehr befriedige, wird das Bedürfnis stärker.

STANDARD: Beim Lesen Ihres Buches bekommt man Angst, dass es den Großteil der jungen Menschen betrifft. Um wie viele Menschen geht es?

Yazdi: Das Schreckliche ist: Wir wissen es nicht. Bei jeder anderen Erkrankung haben wir genaue Zahlen. Bei der Glücksspielsucht wissen wir es relativ genau, weil es dazu 2011 erstmals eine Erhebung gab. 1,1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind betroffen. Zu Online-Sucht gibt es keine großen wissenschaftlichen Erhebungen in Österreich. In einer Erhebung aus einem deutschen Bundesland geht hervor, dass dort vier bis acht Prozent der Jugendlichen internetsüchtig sind. Eine Erkrankung, die bis zu acht Prozent einer Bevölkerungsgruppe betreffen kann, erschreckt mich schon. Bei einer anderen Erkrankung würde ein Aufschrei durch die Medien gehen. Er bleibt aus, weil die Erwachsenen von heute nicht damit aufgewachsen sind. Was passiert in 20 Jahren mit diesen acht Prozent? Das werden nicht die Leute sein, die unsere Pensionen zahlen.

STANDARD: Es gibt viele Menschen, die nach Ihrer Definition onlinesüchtig sind, sich aber selbst nicht so wahrnehmen und keine Defizite verspüren. Ist es nicht Bevormundung, sie verändern zu wollen?

Yazdi: Man kann nicht sagen, dass ein 14-Jähriger tun darf, was er will. Er darf auch nicht so viel  Alkohol konsumieren wie er will. Ich würde auch einem 14-Jährigen nicht sagen, Du kannst so viel Schokolade essen wie du willst. Da würde ich ihn sofort bevormunden. Warum bitte nicht woanders, wo er sich selbst schädigen kann? Es ist unsere Pflicht, uns zu kümmern, wenn sich die jungen Leute Schaden zufügen. Und wenn wir Erwachsene nicht bevormunden wollen – warum verbieten wir dann Zigarettenwerbung? Warum verbieten wir Heroin? Dort, wo sich viele Menschen schädigen können, dort braucht es gesellschaftliche Normen.

STANDARD: Sie loben in ihrem Buch auch China für eine Drei-Stunden-Sperre bei "World of Warcraft". Brauchen wir mehr staatliche Einflussnahme?

Yazdi: Eindeutig. Ich will nicht Werbung für China und eine Diktatur machen. Aber es ist doch eine geniale Idee, um zu verhindern, dass es Süchtige gibt. Wenn ich die Ereignisfrequenzen reduzieren kann, habe ich weniger Süchtige. Ich sage nicht, wir müssen das eins zu eins in Österreich machen. Ich sage nur, wir müssen uns etwas einfallen lassen. Wenn ich ein Haus baue, sagt mir der Staat, wie hoch und breit die Kellertreppe sein muss, weil man sich sonst schädigen könnte. Überall reglementiert der Staat, warum hier nicht?

STANDARD: Der andauernde Umgang mit dem Computer entspricht ja auch der Lebenswelt. Viele Leute sitzen den ganzen Tag vor dem Computer. Facebook erscheint als adäquate Plattform.

Yazdi: Das ist völlig in Ordnung. Wenn sie das beruflich machen, werden sie nicht ständig Dopamin-Kicks in ihrem Gehirn haben. Facebook abzuschaffen wäre Blödheit. Man kann das alles sehr positiv nutzen. Ich sage nur, wir müssen bei Kindern und Jugendlichen aufpassen. Früher war es bei süchtig machenden Mitteln so, dass jeder darüber Bescheid wusste. Eltern sorgten sich, ob Kinder alkohol- oder heroinabhängig werden. Aber jetzt kommen Dinge auf uns zu, über die die Elterngeneration kaum etwas weiß. Die haben kaum Erfahrung. Die Kinder haben meistens einen großen Wissensvorsprung. Wie können Eltern, Lehrer und Politiker über etwas Regeln einführen, von dem sie viel weniger Ahnung haben als die Betroffenen? Das ist das erste Mal in der Geschichte der Zivilisation so. Da lauert eine Gefahr, die übersehen werden kann. Alkohol kann ich nicht mehr übersehen.

STANDARD: Sie sagen, der Staat schützt den einzelnen nicht vor den Manipulationsstrategien der Wirtschaft. Wie viel zählt Eigenverantwortung aus Ihrer Sicht?

Yazdi: Bei einem 14-Jährigen gibt's die nicht. Bei Facebook werde ich ständig mit Werbung berieselt, zum Beispiel für Online-Spiele. Die Verhaltenssüchte greifen genial ineinander. Ich mache mein GMX-Account auf und werde von Werbung berieselt, die gezielt auf mich zugeschnitten ist. Darauf ist die Industrie stolz. Wie sehr manipuliere ich einen 14-Jährigen, wenn ich ihm zugeschnittene Werbung gebe? Wenn er sich nicht bewusst ist, dass er Werbung konsumiert? Auch für Selbstverantwortung gibt es Grenzen. Ich legalisiere ja auch kein Heroin. Mir geht es um psychische Reife. Wenn jemand die psychische Reife nicht hat, kann ich auch nicht von Selbstverantwortung reden.

STANDARD: Den Vergleich mit Heroin finden Sie legitim?

Yazdi: Ja. Es geht darum, dass Leben kaputt gemacht werden. Wenn sich ein Glücksspiel-Süchtiger das Leben nimmt, weil er als zuvor unbescholtener Bürger wegen Beschaffungskriminalität ins Gefängnis musste – ist das jetzt besser oder schlimmer als Heroinsucht? Mir ist klar, dass ich eine radikale Position habe, weil ich ja diese Fälle ständig sehe. Ich weiß: Nicht alle sind so. Die Welt geht nicht den Bach runter. Ich befürchte aber, dass die schlimmen Fälle, die ich sehe, immer mehr werden.

STANDARD: "World of Warcraft" gibt es seit acht Jahren. Lernt die Gesellschaft nicht, damit umzugehen?

Yazdi: Das Spiel hat sich bei 12 Millionen regelmäßigen Spielern eingependelt. Die Gesamtzahl der Benutzer solcher Online-Multiplayer-Spiele steigt aber immer noch. Wir können nicht abschätzen, wo eine Decke erreicht sein wird. Das sind neue Kulturtechniken, mit der es historisch keine Erfahrung gibt. Wir haben immer weniger Kinder. Und viele davon machen wir spielesüchtig.

STANDARD: Aus der Erfahrung ihrer Praxis steigt die Zahl der Therapiebedürftigen also ungebrochen?

Yazdi: Eindeutig Ja.

STANDARD: Ein Spiel als abgeschlossenes Umfeld mit klaren Regeln kann auch Sicherheit geben.

Yazdi: Sicherheit kann aber in Abhängigkeit führen. Überbehütete Mütter machen ihre Kinder auch abhängig. Wenn etwas eine zu einfache Art von Sicherheit gibt, will ich davon nicht weg. Das ist nicht gesund. Gesund ist, wenn ein 14-Jähriger seine Unsicherheit überwindet und sich wagt, in die Gesellschaft hinauszugehen. Es gibt ein gesundes Ausmaß, sich mit Spielen zu beschäftigen. Viele spielen eine Zeitlang intensiv, und hören dann auf, weil sie für eine Prüfung lernen oder Schifahren gehen. Ich sage nicht, schafft das ab. Ich sage nur, die Gesellschaft soll sich mehr damit beschäftigen. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 02.03. 2013)