Cook It Raw: Alle paar Jahre reist eine Bruderschaft von Top-Köchen an exotische Orte, um sich an lokalen Traditionen zu inspirieren, gemeinsam zu kochen und an der feinen Küche der Zukunft zu feilen.

Foto: http:www.phaidon.com, Per-Anders Jorgensen

Beim Lunch vor dem Noma.

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Massimo Bottura in der Lagune von Grado.

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Magnus Nilsson und Yoshihiro Narisawa in Japan.

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Die Nummer eins der Welt: Autor René Redzepi vom Restaurant Noma in Kopenhagen.

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Alessandro Porcelli (Hg.)
Cook It Raw

Phaidon 2013
240 Seiten, 46,99 Euro

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Als zur UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen das erste Cook It Raw stattfand, hat das retrospektiv auch ein Zeichen gesetzt. Die Konferenz brachte die Staaten zusammen, um die Reduzierung von Treibhausgasen anzugehen. Unsere Kreationen, die unter dem Motto "No energy" standen, wurden von Beobachtern gern als essbare Antwort auf den Klimawandel interpretiert. Allerdings war dieses erste Cook It Raw eher der Versuch, die Köche zu echter Innovation in einem unbekannten Terroir voll fremder Produkte herauszufordern - und keineswegs zu einer politischen Reaktion auf die Konferenz. Ich wollte mit dieser Gruppe von Gleichgesinnten beweisen, dass gute Produkte überall zu finden sind, auch an einem Ort wie Dänemark, der nicht unbedingt für sein kulinarisches Erbe bekannt ist.

In jeder noch so kargen, abgelegenen Landschaft kann sich ungeahnte, inspirierende Vielfalt verstecken. Früher war Fine Dining stets von einer Handvoll Luxus-Zutaten geprägt, die meist tausende Kilometer hinter sich hatten: Trüffel, Foie gras, Kaviar. Gesteigertes Umweltbewusstsein und die Nachhaltigkeitsbewegung haben das verändert. Überall suchen wir Köche inzwischen in unserer eigenen Umgebung nach Zutaten und Inspiration - nicht um einem Trend oder einer Mode nachzuhecheln, sondern schlicht aus Notwendigkeit.

Dieser Zugang verlangt von uns, wirklich jede Zutat mit Respekt zu behandeln. Das Konzept Terroir bedeutet, eine Landschaft über das zu definieren, was in ihr wächst. Das ist der Grund, warum bescheidene Gemüse immer mehr in den Mittelpunkt rücken. Saisonalität, Lokalität sind Grundvoraussetzungen, um Qualität wirklich zu kontrollieren. Nur so können wir mit Produkten arbeiten, die wirklich frisch gepflückt oder ausgebuddelt sind und binnen Stunden in der Küche landen. Dann nämlich lassen sich auch aus unscheinbaren, einfachen Dingen außergewöhnliche Gerichte formen.

Förderung der Idee

Nicht Beschränkung der Möglichkeiten ist unsere Prämisse, sondern die Förderung der Idee, erst einmal genau zu erkunden, was rund um einen wächst. Es gibt zahllose Zutaten, die nicht mehr - oder noch nicht - verkocht werden. Das macht diese Art zu kochen so aufregend. Was wir im Noma servieren, ist keineswegs dänische Küche, sondern Küche aus dänischen Zutaten. Wobei viele noch nie in der Küche verwendet wurden, bis wir begonnen haben, mit ihnen zu experimentieren.

Als wir für das erste Cook It Raw zusammenkamen, schien Innovation in der Gastronomie noch eine Frage der jeweils neuesten Maschinen und Techniken zu sein. Wie andere Restaurants auch konnte ich mir eine solche Ausrüstung nicht leisten. Diese Einschränkung hat mich zum Nachdenken angeregt: Wie kann ich Essen kochen, das zukunftsorientiert ist und gleichzeitig eine unverwechselbare Identität hat.

Parallel dazu bestimmte ein Drang zu immer mehr Reglementierung die feine Küche - weg von einer impulsiven Idee der Kreativität. In vielen Restaurants wurden Gerichte haarklein durchgeplant und erst in die Menüplanung aufgenommen, wenn jedes Gramm Salz abgewogen und aufgeschrieben war. Routinierte Exekution war das, was von dieser neuen Generation junger Köche gefragt war. Gutes Kochen aber darf niemals roboterhaft passieren - es verlangt nach Seele, Intuition und Originalität. Obwohl die gängigen Kochstile großes technisches Können erfordern, konnten sie mich nicht überzeugen.

Biologischer Zugang

Also habe ich nach einem Stil gesucht, der zu meinem vielschichtigen Streben bei gleichwohl beschränkten Mitteln passte. Als praktischste und natürlichste Lösung erwies sich schnell, der Intuition zu folgen, einen biologischen Zugang zu wählen und jene Sachen zu verwenden, die es rund um mich gab. Meine Umgebung als Verbündeten zu verstehen und auf sie und die Jahreszeit zu reagieren. Ich hoffte, unserem nur scheinbar begrenzten kulinarischen Alphabet damit ein paar neue Buchstaben hinzufügen zu können.

Mein Streben, lokale dänische Zutaten in die Küche des Noma einzuführen, war durch mehrere Offenbarungsmomente geprägt. Anfangs hatten wir geglaubt, dass das Pflanzenreich uns Dänen einzig mit öden Wurzeln, mit Zwiebeln und Kohl beschenkt hatte. Sie galten damals als Synonym unserer Küche. Gewürze zu verwenden kam für uns nicht infrage: Das waren exotische, fremde Kräuter aus fernen Ländern, während der raue nordische Winter den Boden für mehrere Monate im Jahr unfruchtbar machte. Dann aber, eines kalten, windigen Morgens, fanden wir Strand-Dreizack am Meeresufer wachsen. Das geheimnisvolle Kraut versteckte sich, angeschmiegt an raue Strandgräser - aber sein Geschmack war so tiefgehend und köstlich, dass sich die Mühe, es zu suchen, mehr als gelohnt hatte.

Ich erinnere mich, wie ich zurücklief, aufgeregt wie ein Kind. Die Jungs in der Küche mussten das auch kosten! Sie konnten es kaum glauben. War es möglich, dass wir Koriander schmeckten? Der Geschmack, den wir aus der Thai- und Latino-Küche kannten, gab sich hier als schroffe kleine Staude aus, versteckt an der Küste unserer eigenen Stadt? Die Entdeckung heizte uns ins vielerlei Hinsicht an. Mit seinen Instinkten und mit Empfindsamkeit auf die Natur einzugehen, pausenlos neugierig zu sein, das Unentdeckte erforschen zu wollen ist nicht die schlechteste Art vorwärtszukommen. Es ist ein wichtiger Ansatz, wie wir Noma weiterentwickeln.

Fantasie und Neugierde beflügelt

Das Land zu respektieren heißt aber auch, all jene zu respektieren, die es bearbeiten. Der Bauer Søren Wiuff war einer der ersten und ist bis heute einer meiner wichtigsten Lieferanten. Er baute damals hauptsächlich für sich selbst Karotten und andere Gemüse an. Aber was für Karotten! Diese einzigartigen Zutaten zu sehen und zu schmecken, meine Hände in die Erde zu stecken, in der sie wuchsen - das beflügelte meine Fantasie und Neugierde und beeinflusst bis heute die Art, wie ich koche. Søren ist längst einer der Hauptlieferanten von Noma, und ich bin ihm unendlich dankbar für die Hingabe, Leidenschaft und den Enthusiasmus, die in seinen Produkten stecken.

Als ich elf Köche nach Kopenhagen zum ersten Cook It Raw einlud und sie aufforderte, alles zurückzulassen, was sie von zu Hause kannten, um mit neuen unüblichen Produkten zu arbeiten, sich dabei voll auf die eigene Intuition und ihr Können als Koch zu verlassen - da hoffte ich: sie so zu inspirieren, wie ich zuvor von Wiuff inspiriert worden war. In diesem Geist stapfte dieser bunt zusammengewürfelte Haufen über die Wiesen und durch die Wälder rund um Schloss Dragsholm außerhalb von Kopenhagen. Ich kann mich noch exakt erinnern, wie David Chang (Sternekoch aus New York City, Anm.) beim Kriechen durch den Wald plötzlich innehielt, wie sich sein Gesichtsausdruck änderte und es ihm vorkam, als ob sich die eben noch karge Gegend in einem Moment in eine großzügige Speisekammer verwandelt hätte.

Ich erinnere mich auch noch an den Moment, als sich Davide Scabin (Sternekoch aus dem Piemont, Anm.) in den Bärlauch verliebte, ihn als sexy bezeichnete und anzüglich seine Hüften schwang. Oder als Albert Adrià wie ein großes Kind kicherte, wann immer er ein neues aromatisches Kraut oder eine köstliche Blume fand. Es war für mich immens befriedigend, diese Köche aus ihrer comfort zone zu holen und sie in die Welt der wilden Köstlichkeiten einzuführen. Wenn man selbst auf Nahrungssuche geht, ist nicht das Gesammelte der größte Lohn - sondern, dass man einen anderen, einen neuen Blick auf die Welt da draußen bekommt.

Fehler machen

Es gibt auch eine andere Motivation, die zwar weniger greifbar erscheint, aber letztendlich den Antrieb für unsere andauernde Faszination an der Idee von Cook It Raw darstellt: Wir dürfen dabei sicher sein, keiner Kritik ausgesetzt zu werden. Frei sein, Fehler zu machen. Auch einmal danebenhauen und über uns selbst lachen. In unseren echten Leben ist Scheitern keine Option. Cook It Raw lässt uns kurz durchatmen. Hier haben wir die Freiheit zu spielen, zu scheitern und daraus zu lernen. Diese Offenheit und Demut hat uns auch als Gruppe zusammengeschweißt. Wir sind Freunde geworden.

Das Leben als Koch ist eingebettet in Küchendienste. Rezepte strukturieren seine Tage, körperliche Schmerzen bestimmen sie - Schnitte, Verbrennungen und andere Unfälle sind das Einzige, was die auslaugende Routine unterbricht. Bei Cook It Raw gibt es ein wenig Zärtlichkeit und Kameradschaft, ein bisschen Wärme. Bei diesen Freundschaften geht es aber um mehr als Kameradschaft und einen Sinn der Zugehörigkeit, sie treiben auch unser Essen weiter voran. Wir sind uns sehr ähnlich in unserem Zugang zum Kochen und der Art der Beschaffung von Zutaten. Durch unsere gemeinsamen Entdeckungen und Geschichten halten wir unseren Enthusiasmus am Leben. Wenn wir unsere Träume miteinander teilen, dann malen wir uns auch aus, wie viele unberührte nachhaltige Ressourcen uns die Natur noch bieten kann.

Alex Atala (Sternekoch aus Brasilien, Anm.) sucht den Amazonas nach neuen Zutaten ab, die die Seele Brasiliens auf seine Teller bringen können. Magnus Nilsson verbringt seine Sommer damit, die Ernte haltbar zu machen, die er rund um Fäviken anbaut - nur so kann er lokale Zutaten auch in den rauen schwedischen Wintermonaten anbieten. Wir alle haben die gleiche Vision, die sich nur von der Umgebung, in der wir leben, und den dortigen Produkten unterscheidet. Wir wollen nicht den kulinarischen Fortschritt einbremsen, wir wollen nur ein wenig umlenken: das Beste aus den Zutaten unserer Heimat herausholen, Zutaten verwenden, die man am einfachsten bekommt und die höchste Qualität haben.

Und: neue Ansätze in unserem Essen verfolgen. Jeder von uns kehrt von so einer Erfahrung erfrischt in seine Küche zurück, inspiriert, mit neuen Perspektiven. Aber: Wir kehren zurück in die Küchen. Schließlich sind wir Köche, keine Aktivisten. Was also kann Cook It Raw dann tatsächlich ausrichten, damit der Natur die wohlverdiente Aufmerksamkeit geschenkt wird?

Umwelt, Klima, Landschaft

Die Köche von Cook It Raw sind sich einig, dass die Natur die Mutter der guten Küche ist. Wir wissen, dass man guten Geschmack nicht aus schlechten Zutaten kreieren kann und dass die besten Zutaten in gesunder Umwelt zu finden sind. Jede Gegend, die wir besuchten, war einzigartig, die Zutaten ebenso wie die Kultur der Menschen. Diese Dinge werden eben über die Natur definiert - es ist die Kombination aus Umwelt, Klima, Landschaft, die jeder Gegend ihre eigene, herausfordernde Eigenheit verleiht. All diese Orte sind abgelegen und unberührt. Sie sind roh.

Auch in Zukunft werden wir Köche einladen, einzigartige, dynamische Landschaften in aller Welt kennenzulernen. Die unglaublichen Zutaten, die wir dort finden, inspirieren uns hoffentlich, auch daheim die Biodiversität zu erkunden. Dieser Appell richtet sich aber nicht nur an die Köche, die vor Ort teilnehmen, sondern genauso an jene, die davon lesen und inspiriert werden. Die nächste Generation von Köchen wächst in einem Zeitgeist auf, in der Saisonalität und Nachhaltigkeit in unserem sozialen Bewusstsein an vorderster Stelle stehen. Und das nicht nur im Bereich der Gastronomie.

Bei Cook It Raw geht es uns darum, eine Message zu verbreiten, Bewusstsein zu schaffen, neue Generationen von Köchen zu inspirieren. Einige der Entdeckungen finden vielleicht den Weg auch in ein Menü, das Sie, lieber Leser, genießen dürfen. Ich hoffe, dass es Sie zum Nachdenken ermutigt. Wenn wir auch in Zukunft herausragendes Essen wollen, dann sollten wir beginnen, uns mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. Wir müssen uns um die Natur und die Umwelt sorgen, wenn wir uns erwarten, dass sie für uns sorgt. (René Redzepi, Rondo, DER STANDARD, 29.3.2013, gekürzte Version des Originaltexts, Übersetzung: Louise Witt-Dörring und Severin Corti)