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Mehr Platz, mehr Menschen: Der Großraumwagen setzt sich beim Zugfahren immer mehr durch.

Foto: AP/Punz

Bahnfahrer können Extremisten sein. Einsam weinen im Zugabteil oder gemeinsam schreien im Großraumwaggon: Für viele gibt es dazwischen keine Abstufungen, die Stunden im Zug entwickeln sich zur Grenzerfahrung. Dabei werden die Zeiten für die Freunde der Zugabteile immer härter. Denn der internationale Trend geht deutlich zum Großraumwagen.

Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) setzen in den neuen Zuggarnituren ausschließlich auf Großraumwagen. Seit 2008 kurvt der Railjet über das heimische Schienennetz. Und das ohne Abteile. Das subjektive Sicherheitsgefühl der Reisenden sei höher, zahlreiche positive Rückmeldungen gebe es, heißt es seitens der ÖBB auf Nachfrage von derStandard.at.

Geschmacksfrage

Der Zug zum Großraumwagen gefällt aber bei weitem nicht allen. So mancher sehnt sich nach den Zugabteilen zurück, in denen man maximal zu sechst war, zwar auch auf engem Raum, aber eben mit weniger Menschen. In größeren Gruppen zu verreisen wird zur Herausforderung, denn im Großraumwaggon sitzt man maximal zu zweit, zu mehrt dann aber hintereinander - außer man ergattert einen der spärlichen Vierer-Tische.

Andere sind vermutlich heilfroh darüber, dass es die Abteile nicht mehr gibt. Nicht nur allein reisenden Frauen war das schummrige Abteil nicht immer ganz geheuer, die Intimsphäre zu intim und eher unangenehm als erwünscht. So könnte eigentlich jeder nach seiner Facon glücklich werden, würde einem der Bahnbetrieb nicht einen Strich durch die Rechnung machen.

Mehr Kapazität

Mehr Platz für mehr Passagiere, so lässt sich zusammenfassen, was neben der Sicherheitsfrage als Vorteil des Großraumwagens gegenüber dem Abteilwaggon gilt. Kurz gesagt: mehr Kapazität, mehr Effektivität. Das weiß man auch bei Siemens. In einen Großraumwagen kann man nämlich eine sogenannte 2+2-Bestuhlung bauen, während im Abteilwagen maximal drei Sitze je Reihe Platz finden. Der Industriekonzern produziert unter anderem Waggons und Züge, aber Abteilwagen würden praktische keine mehr gebaut, heißt es auf Nachfrage. Lediglich Schlafwagen würden noch über Abteile verfügen. Preislich macht es keinen großen Unterschied, ob ein Bahnunternehmen Großraum- oder Abteilwagen bestellt. Laut Siemens kostet ein Großraumwagen auf aktuellem Stand der Technik um die 1,5 Millionen Euro.

Die Frage nach Großraum- oder Abteilwagen sei eine alte, sagt Thomas Winkler, Kustos für den Sammlungsbereich Verkehr im Technischen Museum in Wien. In Österreich ruckeln seit den 1830er Jahren Züge durch das Land. Wie überall orientierte man sich auch hierzulande an den Pionieren der Bahnfahrt: Großbritannien einerseits, den Vereinigten Staaten andererseits. Während nämlich die Briten die Abteilwagen kultivierten, durchquerten die US-Amerikaner mehr oder weniger von Anfang an im Großraumwagen ihr Land. Ruhe und Privatsphäre eines Abteils oder gleich eines ganzen Wagens bedeuteten Luxus, so wie das Eisenbahnfahren selbst durchaus etwas Luxuriöses an sich hatte.

Als österreichische Zeitzeugen davon kann man im Technischen Museum einige Gustostückerln der Eisenbahngeschichte bestaunen. Hannibal, quasi das Ur-Abteil, ist ein Kutschenwagen auf Schienen, der mit Pferdeantrieb von Linz nach Budweis fuhr. Oder der Salonwagen der österreichischen Kaiserin Elisabeth. Beheizt und mit einer Wassertoilette ausgestattet, zeigt der Waggon, was Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Schiene möglich war. Hofwaggons gibt es übrigens bis in die jüngste Vergangenheit. Sogar der österreichische Bundespräsident konnte auf einen Waggon, den "Salon 10" zurückgreifen, wenn er per Bahn in der Weltgeschichte herumreiste. 2012 wurde der "Salon 10" endgültig eingemottet und dem Eisenbahnmuseum Strasshof überlassen, Kurt Waldheim war der letzte Präsident, der den Wagen dienstlich nutzte.

Auf dem Weg zum Durchgangswagen

Großraumwaggons heißen in der Fachsprache "Durchgangswagen" - eine Reminiszenz an historische Entwicklungen. Denn die Abteilwagen, genauer gesagt die Coupé-Wagen, des vergangenen Jahrhunderts zeichneten sich vor allem durch sehr viele Türen aus: Jedes Abteil hatte einen eigenen Zugang. Gut für die Exklusivität und die Privatsphäre, schlecht für die Sicherheit und die Geschwindigkeit beim Ein- und Aussteigen. Durch den Waggon gehen und einen Platz aussuchen geht da nicht, ganz zu schweigen davon, dass die Türen aus Sicherheitsgründen meist von außen aufzusperren und nicht von innen zu öffnen waren. Im Fall von Unfällen oder Bränden keine praktikable Lösung, wie man sich vorstellen kann.

Als die Eisenbahn ihren Siegeszug durch die Jahrzehnte und Länder begann, setzte auch eine Demokratisierung des Reisens ein. Der Fabrikarbeiter konnte - sofern er sich ein Zugticket leisten konnte - gleich flott von Wien nach Wiener Neustadt fahren wie der Baron. Aber bei aller Demokratisierung, eine klassenlose Reisegesellschaft gab es damals wie heute nicht. Bis Anfang der 1930er Jahre waren das Bahnfahren und Bahnhöfe eine Vier-Klassen-Angelegenheit, wobei die vierte Klasse ein "besserer Güterwagen" war, sagt der Eisenbahnexperte des Technischen Museums. Die Hochwohlgeborenen fanden die Gesellschaft nicht immer sonderlich erbaulich, weswegen es auch in der Eisenbahngeschichte durchaus "den Trend der noblen Herren gab, wieder individuell zu fahren", erzählt Winkler. Damit meint er den Rückgriff auf die Kutsche statt des gemeinschaftlichen Bahnfahrens mit Krethi und Plethi.

Trendwandel

Der Abteilwagen setzte sich letztlich gesellschaftlich durch. Privatsphäre und ein Hauch von individuellem Freiraum beim gemeinschaftlichen Reisen, Ruhe und Frieden mit den paar Mitreisenden, das wünschte sich der Europäer beim Bahnfahren. Erst in jüngster Vergangenheit wandelt sich der Trend. Auf dem Weg zu mehr Effizienz bleibt das Abteil auf der Strecke. Aber auch die Reisewege und -gewohnheiten haben sich verändert. Seit das Flugzeug der Bahn sogar kostentechnisch den Rang als Transportmittel vor allem bei mittleren und längeren Strecken abläuft, ist der Großraum für Reisende nichts Außergewöhnliches mehr.

Wer Ruhe will, muss Geld springen lassen. An diesem Prinzip hat sich über die Jahrhunderte nichts geändert. Ob es nun die Business Class im Flieger oder im Railjet ist, je mehr man zahlt, desto eher bekommt man ein wenig mehr Exklusivität und Platz geboten. Wer nicht mehr bezahlen will oder kann, kann dennoch ausweichen. Die ÖBB verweisen auf ICs und ECs, die sowohl über Abteilwagen als auch über Großraumwagen verfügen. Die Railjets würden zudem über abgetrennte Ruhebereiche verfügen.

An der Frage, ob es sich im Großraumwagen oder im Abteil schöner reisen lässt, werden sich die Geister also scheiden, solange Züge über die Schienen zuckeln und es die Wahl zwischen Coupé und offenem Waggon gibt. (Daniela Rom, derStandard.at, 1.5.2013)