Le Ly Hayslip verbringt jedes Jahr mehrere Monate in ihrer alten Heimat. Die rasende ökonomische Entwicklung in ihrem Heimatland betrachtet sie mit Sorge.

Foto: Fabiola Büchele

Das Heimatdorf von Le Ly Hayslip wie es heute aussieht.

Foto: Harvey Morrison

Hier sieht man die Skyline von Danang. Der Küstenort ist in den letzten Jahren zur Luxusdestination für UrlauberInnen geworden.

Foto: Harvey Morrison
Foto: Harvey Morrison

Vor 40 Jahren verließen die letzten US-Soldaten ein weitgehendes zerstörtes Vietnam. Es war ein Krieg, den die USA am liebsten vergessen würden. Und den Vietnamesen geht es nicht anders. Le Ly Hayslip meint, dass genau das nicht passieren darf. Sie ist mit ihrer Vergangenheit im Reinen, aber sie hat sie nie vergessen.

Zwischen Himmel und Hölle

Vor zwanzig Jahren hat Hollywood Regisseur Oliver Stone die bewegte Lebensgeschichte von Le Ly und ihr Er- und Überleben des Vietnam Kriegs verfilmt. Der Film "Zwischen Himmel und Hölle" basiert auf Le Lys Autobiografien, in denen sie ihren Lebensweg niederschrieb. Das Teilen dieser oft bitteren Erinnerungen hat seither kein Ende genommen. Sie vergleicht ihre Entscheidung, sich komplett zu offenbaren, mit einem heißen Glas Wasser: "Du willst es nicht berühren, aber wenn du es verschüttest, ist es nicht mehr heiß, es kühlt ab. Und wenn es abkühlt, lässt sich leichter damit umgehen."

Le Ly war ein junges Mädchen, als die ersten amerikanischen Helikopter 1956 in ihr Heimatdorf kamen. Es war ein kleiner Ort in der Nähe der Küstenstadt Danang, einer der wichtigsten Luftstützpunkte der Amerikaner. 200 Kilometer weiter nördlich trennte die entmilitarisierte Zone den kommunistischen Norden vom Süden des Landes. Die Grenznähe zwang die DorfbewohnerInnen, sich zwischen Nord- und Südvietnam zu entscheiden. Beide Fronten waren präsent und buhlten brutal um AnhängerInnen. Wie ihre Nachbarn steckte Le Ly in einem gefährlichen Zwiespalt: "Bist du zu blöd, stirbst du. Bist du zu intelligent, stirbst du. Das musst du wissen um zu überleben. Ich weiß wo die Grenze ist. Wann ich meinen Mund aufmache und wann nicht, das lernte ich schon im Alter von drei Jahren."

In den Fängen der Kriegsparteien

Das Wissen half wenig. Die junge Le Ly wurde von südvietnamesischen Soldaten des Verrats bezichtigt. Warum wusste sie auch nach der Folter in Gefangenschaft nicht. Ihre Zeit im Gefängnis interpretierten die Viet Cong wiederum als Zusammenarbeit mit dem Feind. Sie verurteilten Le Ly zum Tode. Am Exekutionsplatz überlegten sie es sich anders: sie vergewaltigen die Vierzehnjährige und schickten sie nach Hause.

Um sich vor weiterer Verfolgung zu schützen, zog die junge Frau nach Saigon in den Süden des Landes, wo sie als Hausmädchen arbeitete. Sie wurde vom Hausherrn schwanger und kehrte als alleinerziehende Mutter nach Danang zurück. Fünf Jahre ernährte sie sich und ihren Sohn mit Schwarzmarktgeschäften. Aus finanzieller Not verkaufte sie ihren Körper an US-Soldaten. Die Flucht gelang durch ein Eheangebot eines Amerikaners. Ihr 34 Jahre älterer Ehemann nahm sie 1970 mit in die USA.

Fehlende Anerkennung in Vietnam

Heute ist Le Ly zweifache Witwe und lebt immer noch in den Staaten. Sie bezeichnet sich als "Kind des Krieges, Frau des Friedens." Dass ihre Leistung in ihrem Heimatland nicht anerkannt wird, hindert sie nicht, sich für die Entwicklung in Vietnam einzusetzen. Sie glaubt, ihre Geschichte ist den Machthabern unangenehm. "Auszeichnungen gibt es nur für die weißen Männer, die für mich arbeiten. Für sie bin ich nur eine ungebildete Frau, die zu viel redet." Doch Entwicklung bedeutet für Le Ly menschliche Unterstützung, das hat nichts mit Politik zu tun. Ihre Hilfsorganisationen "East meets West" und "Global Village" haben über 30 Millionen US-Dollar für Bildungs- und Gesundheitsprojekte in Vietnam gespendet. Mit ihren Projekten will sie das Verständnis der ehemaligen Kriegsgegner USA und Vietnam füreinander erhöhen.

Bildung und Wissen sollen den Menschen in Vietnam die Augen öffnen. Damit die ihre Verantwortung wahrnehmen und Chancen im eigenen Land sehen. Le Ly verbringt jedes Jahr mehrere Monate in Vietnam. Sie hält Vorträge an Universitäten und Schulen und kümmert sich um ihre "mobile libraries". Das sind Bücherkisten, die an Schulen auf dem Land verteilt werden. Sie will, dass die nächste Generation aus ihrer Geschichte lernt. Vor allem die jungen Frauen sollen nicht in ihre Fußstapfen treten und das Land verlassen.

Warnung vor  Migration

Im Ausland ist es nicht leicht. 43 Jahre in den USA machen Le Ly trotz Staatsbürgerschaft nicht zur Amerikanerin. Ihr Akzent wird sie immer als Fremde entlarven. Sie ist eine "Viet Kieu" – eine Auslandsvietnamesin. Weder hier noch da zu Hause. "Einen älteren Westler zu heiraten ist keine Lösung," sagt sie. Aber ihre Botschaft kommt nicht an. "Die jungen vietnamesischen Frauen wollen von Schwierigkeiten nichts hören. Sie sehen nur das, was vom Westen her glänzt. Aber von der häuslichen Gewalt, von der Entwurzelung wollen sie nichts wissen."

Die Frauen müssen Selbstverantwortung lernen und dabei Unterstützung von der Gesellschaft bekommen, meint sie. Nur so ändern sich die Muster. Doch sowohl ihre Bücher wie Stone's Film unterliegen nach wie vor der Zensur. Sie sind nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Die negative Darstellung der Viet Cong Soldaten passt nicht in die Propaganda des Staates. Die Machthaber wollen den Krieg nur von der Siegerseite her erinnern. Einzelschicksale haben keinen Platz.

"Das hier ist Kapitalismus, nicht Kommunismus"

Vor 27 Jahre, als Le Ly zum ersten Mal aus ihrem amerikanischen Exil nach Vietnam zurückkam, war Danang von Armut durchzogen. Jetzt gibt es breite, saubere Straßen und protzige Brücken, wo früher kleine Fähren reichen mussten. Heute stehen prächtige Häuser auf ehemaligen Exekutionsplätzen und Friedhöfen. Die Gründstücke um Danang werden vom Staat aufgekauft und um das vielfache an Investoren weitergegeben. Auch Le Lys Heimatdorf soll dem Fortschritt Platz machen. Wann und für was, bleiben offene Fragen.

Der Fortschritt hat einen saftigen Preis, meint Le Ly: "Wir haben heute Entwicklung im Land. Aber sie haben ihre Friedhöfe verloren, ihre Ahnenhäuser, sie haben ihre Pflanzen verloren, ihre Reisfelder." Danang ist in den letzten Jahren zur Luxusreisedestination geworden. Le Ly deutet beim Morgenspaziergang auf eine nicht enden wollende Front von Mega-Resorts: "Der Westen hat doch gewonnen. Das hier ist Kapitalismus, nicht Kommunismus," sagt sie. "Fünf Millionen Menschen haben ihr Leben gelassen, weil sie das hier nicht wollten. Wenn die Menschen das gewollt hätten, hätten sie gleich sagen können, hier bitte, da ist der Strand, baut, was ihr wollt."

Seit "Doi Moi", der wirtschaftlichen Öffnung des südostasiatischen Staates vor 30 Jahren, ist der nationale Blick streng nach vorne gerichtet. Wenn die Dörfer rundum Danang einem Golfplatz weichen, sind die letzten Spuren der früheren Kriegsrealität verschwunden. Alles, was dann noch übrig bleibt, sind ein paar alte Helikopter im Garten des propagandistischen Stadtmuseums. Die Vergangenheit droht in Vergessenheit zu geraten. Aber Le Ly weiß, sie kann diese rapide Veränderung weder aufhalten noch ihre Richtung beeinflussen. Ihr starker buddhistischer Glaube ist für das Akzeptieren der Dinge, die sie nicht ändern kann, verantwortlich.

Schäden für das "kollektive Karma"

Vergeben und akzeptieren, das bestimmt Le Lys Leben. Dem Land, der Geschichte, den Menschen, und dem Fortschritt. Das hat sie nicht in Amerika gelernt. "In Amerika ist so viel Hass. So viel Rachsucht," sagt sie kopfschüttelnd. "Es ist schwer zu akzeptieren, dass sie so viele Zivilisten in ihren Kriegen umbringen und dann zu Hause als Helden gefeiert werden. Aber das ist deren Problem. Es beeinflusst das kollektive Karma, aber ist nicht mein persönliches Problem. Ich kann hingehen und sagen Stopp. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich muss auf mich selbst aufpassen, das ist die Lehre des Buddha. Und durch humanitäre Arbeit kann ich mein gutes Karma verstärken und mich selbst befreien." So bleibt Le Ly eine unprätentiöse Chronistin der Vergangenheit, die sich sanft aber bestimmt gegen die vorherrschende Vergessenheitskultur stellt. (Fabiola Büchele, dieStandard.at, 1.5.2013)