Tito Boeri drängt auf Reformen am Arbeitsmarkt.

Foto: economia e societa/ Anna Gregnanin

STANDARD: Welche Maßnahmen müsste die neue Regierung unter Enrico Letta als Erstes in Angriff nehmen?

Tito Boeri: Die wichtigsten sozialökonomischen Maßnahmen betreffen den Arbeitsmarkt. In Italien gibt es sechs Millionen Personen, die keiner regulären Arbeit nachgehen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist im März auf einen Nachkriegsrekord von über 38 Prozent angestiegen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Steuererleichterungen bei Neueinstellungen könnten beispielsweise die Beschäftigung stimulieren. Die Arbeitsmarktreform der alten Regierung unter Mario Monti konnte die Lage nicht entschärfen.

STANDARD: Ex-Regierungschef Berlusconi besteht darauf, die von der Regierung Monti eingeführte Immobiliensteuer abzuschaffen. Letta hat vorerst eine Aussetzung der Steuer zur Jahresmitte und eine Neuberechnung angekündigt. Welche Auswirkungen würde das auf die Wirtschaft haben?

Boeri: Ich hoffe nicht, dass sich der neue Regierungschef Enrico Letta von den Forderungen Berlusconis kleinkriegen lässt. Es ist kein Spielraum für die kostspielige Abschaffung der Immobiliensteuer vorhanden. Sie würde den Staat acht Milliarden Euro kosten. Immobiliensteuern gibt es in nahezu allen EU-Ländern, warum sollte Italien hier eine Ausnahme sein? Berlusconi hat in seiner Wahlkampagne die Abschaffung der Steuer versprochen. Er hat aber auch gesagt, dass er dies eventuell aus seiner eigenen Tasche zahlen würde. Das kann er ja machen. Es dürfen keineswegs öffentliche Gelder für sekundäre Zwecke genutzt werden.

STANDARD: Wie sehen Sie die Äußerung von EU-Kommissar Olli Rehn, dass die rigorose Austeritätspolitik der EU etwas gelockert werden könnte?

Boeri: Ich glaube, dass nach den Wahlen in Deutschland, das heißt im kommenden Herbst, die Zeit reif ist, die Zügel zu lockern. Industrieminister Flavio Zanonato hat bereits wissen lassen, dass die Lockerung des Stabilitätspaktes Voraussetzung dafür sei, dass die neue Regierung ihr ehrgeiziges Programm umsetzen kann.

STANDARD: Die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo spricht sich für ein Referendum über den Euro aus. Grillo fordert auch ein duales Währungssystem, also die Lira für den internen Markt, den Euro für den Außenmarkt. Was halten Sie von diesen Vorschlägen?

Boeri: Beide Maßnahmen sind ein Blödsinn. Sie würden höchstens die Kapitalflucht aus Italien fördern. Beppe Grillo versteht von Wirtschaft wenig.

STANDARD: Wann sehen Sie für Italiens Wirtschaft eine Erholung?

Boeri: Wenn es zu einer politischen Stabilisierung kommt, ist eine Erholung zu Jahresende 2013 nicht auszuschließen. Auch die OECD zeigte sich in ihrer jüngsten Prognose diesbezüglich optimistisch.

STANDARD: Wie lange wird die Regierung Letta im Amt bleiben?

Boeri: Ich bin der Meinung, dass die neue Regierung in erster Linie institutionelle Reformen im Visier hat, und nur in zweiter Linie wirtschaftliche. Um institutionelle Reformen durchzuführen, wird die Regierung mindestens zwei Jahre benötigt. (Thesy Kness-Bastaroli, DER STANDARD, 2.5.2013)