EU-Justizkommissarin Viviane Reding in ihrem Brüsseler Büro, Sprecherin Mina Andreeva (li.)

Foto: Standard/Mayer

Viviane Reding wird als gemeinsame EVP-Kandidatin gehandelt.

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Brüssel - EU-Justizkommissarin Viviane Reding wirft dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán ein "systematisches Vorgehen" bei Verstößen gegen die Verfassung vor. "Mit der Rechtsstaatlichkeit ist aber nicht zu spaßen. Eine Verfassung ist keine Spielzeug", sagt sie im Europagespräch mit Thomas Mayer und kündigt eine härtere Gangart für die Zukunft an. Was die EU heute bei Ungarn tue, das reiche nicht aus. Es gelte, in den EU-Verträgen neue "feinere" Regeln zu schaffen, weil man mit dem Artikel-7-Verfahren und der Drohung des Ausschlusses nur eine justizielle "Atombombe" zur Verfügung habe. Reding will für die Einhaltung des Rechtsstaates und eine funktionierende Justiz in einem EU-Land ähnlich strenge Verfahren wie das derzeit im Euro- und Wirtschaftsbereich aufgebaut wird. Nur wenn die Justiz gut funktioniere, könne auch die Wirtschaft in einem Staat mit Vertrauen und Investitionen rechnen.

Die Kommissarin aus Luxemburg kündigt an, dass sie 2014 erneut bei den Europawahlen für ein Mandat kandidieren werde, so wie in der Vergangenheit auch. Dafür müsse sie unbezahlten Urlaub als Kommissarin nehmen, um in den Wahlkampf gehen zu können. Sie sei aber davon überzeugt, dass sich Kommissare, die wie Regierungsmitglieder agierten, der direkten Wahl durch die Bürger stellen sollten. In der Zukunft werde das in Europa die Regel sein. Die Union brauche ab 2015 einen Reformkonvent und einen tiefgehend geänderten EU-Vertrag. Der könnte 2018 in Kraft treten. Ob sie Spitzenkandidatin der europäischen Christdemokraten werden will, lässt Reding offen: "Das steht nicht auf meiner Agenda". Die 62-Jährige wird wegen ihrer Erfahrung immer wieder als eine mögliche gemeinsame EVP-Kandidatin genannt: Sie gehört seit 14 Jahren der EU-Kommission an, spricht perfekt die drei Amtssprachen der EU, Deutsch, Englisch und Französisch, war EU-Abgeordnete und ist eine der wenigen weiblichen Politiker, die auf EU-Ebene an der Spitze mitmischen. Sie hat sich mit ihrem Engagement für Grundrechte einerseits Bewunderung erarbeitet, aber auch einige mächtige Gegner in der EVP eingehandelt, als sie gegen den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy wegen der Ausweisungen von Roma und eben auch gegen Orbán mit Bestimmtheit auftrat.

Mit Viviane Reding sprach Thomas Mayer.

Standard: Das Problem der EU-Rechtsverstöße durch die Verfassungsänderungen der Regierung in Ungarn war nach den Roma-Abschiebungen in Frankreich der zweite große Fall in Ihrer Amtszeit, bei dem Grundrechtsverletzungen plötzlich in einer breiten europäischen Öffentlichkeit für Aufregung sorgten. Warum sind die Reaktionen so viel stärker als früher?

Reding: Mit der Rechtstaatlichkeit ist nicht zu spaßen. Eine Verfassung ist kein Spielzeug, das man alle paar Monate ändern kann. Außerdem hat sich mit dem Vertrag von Lissabon Anfang 2010 etwas geändert: Die Zuständigkeit der Kommission in Justizfragen bei grenzüberschreitenden Angelegenheiten wurde gestärkt- und wir können schneller im Interesse der Bürger reagieren. Dazu kommt noch, dass die Charta der Grundrechte in den Vertrag integriert wurde, sodass wir jetzt diese Bill Of Rights haben, wie die Amerikaner sagen, die auch anwendbar ist.

Standard: Aber offenbar nur mühsam durchzusetzen ist?

Reding: Wir haben bewiesen, dass wir Grundrechteverletzungen ernst nehmen. Nehmen Sie die Diskriminierung der Roma. Das ist von der Sache her eigentlich nichts Neues gewesen. Meine Intervention gegen Frankreich kam, weil eine ganze Völkergruppe des Landes verwiesen wurde, ohne dass ihre Verfahrensrechte berücksichtigt wurden. Das war ein klarer Verstoß gegen die EU Freizügigkeitsrichtlinie von 2004. Leider hatte man früher nicht viel Augenmerk auf dieses EU-Gesetz gelegt. Das habe ich festgestellt. Auf Basis einer sehr klaren Rechtslage in Europa haben wir dann festgestellt, dass 16 Länder diese Richtlinie nicht richtig umgesetzt hatten. Inzwischen ist das erledigt, aber wir mussten wirklich ein Brecheisen einsetzen.

Standard: Sind die Verfahren gegen Ungarn so etwas wie beispielhaft, wie man in Zukunft über die europäische Ebene Grundrechte auf nationaler Ebene durchsetzt?

Reding: Wir hatten nicht nur Ungarn. Im Sommer vergangenen Jahres gab es den Fall Rumänien, wo der oberste Gerichtshof beinahe seiner Zuständigkeiten beraubt wurde. Da haben wir interveniert, und konnten das Schlimmste verhindern. Was wir in Ungarn sehen ist eine systematische Vorgehensweise gegen die Verfassung. Sie wird mit Zwei-Drittel-Mehrheit einfach alle drei bis sechs Monate immer wieder geändert. Gesetze werden in die Verfassung übernommen, sodass sie vom Verfassungsgericht nicht mehr als verfassungswidrig erkannt werden können.

Standard: Wie wirkt sich das konkret aus für die ungarischen Bürger, ein Beispiel?

Reding: Wir haben zuletzt drei Änderungen der Verfassung beanstandet. Artikel 17 der Änderungen legt fest, dass etwaige Geldstrafen, die dem ungarischen Staat vom eigenen Verfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof auferlegt werden, automatisch als Sonderabgabe an die Bürger weitergereicht werden, soweit Urteile des EU-Gerichts betroffen sind. Das ist ein Verstoß gegen den Grundsatz des unionstreuen Verhaltens gemäß Artikel 4 des EU-Vertrages. Es entsteht der Eindruck, die ungarischen Bürger werden für Urteile des obersten EU-Gerichtes bestraft, an denen in Wirklichkeit die Regierung schuld ist.

Standard: Spielt Premier Orban mit der Union und den Partnern Katz und Maus?

Reding: Die Kommission ist die Hüterin der Verträge und muss auch in solchen Situationen einen kühlen Kopf bewahren. Wir handeln auf der Basis von Gesetzen und Fakten. Das hat uns auch dazu gebracht, dass wir zum ersten Mal im europäischen Semester, also dem umfassenden Wirtschafts- und Haushaltsbericht mit den länderspezifischen Empfehlungen auch das Justizbarometer aufgenommen haben. Das ist eine echte Neuerung. Das bedeutet, es wird genau analysiert, ob in einem Land die Justiz funktioniert, ob sie unabhängig ist. Das muss man auch in Zusammenhang mit der Wirtschaft sehen. Wir haben nämlich festgestellt, dass eine nicht funktionierende Justiz Investitionen verdrängt. Wenn es kein Vertrauen gibt, gibt es auch weniger Investoren.

Standard: Heißt das. Kein grünes Licht in der Wirtschaftspolitik, wenn in der Justizpolitik Foul gespielt wird?

Reding: Justizpolitik ist auch Wirtschaftspolitik. Diesen Hebel haben wir jetzt im Wirtschaftsbericht eingebaut, und der wird aufgrund der Diskussion, die zu Ungarn sehr breit gefächert war, eingesetzt. Die Außenminister werden einen Bericht machen, das Europaparlament und die Venedig-Kommission des Europarates. Man wird sagen, wir brauchen einen anderen rechtlichen Hebel für Grundrechtsverletzungen. Ungarn war der Auslöser dafür. Aber dieser Hebel darf nicht nur für Ungarn geschaffen werden, sondern für alle Mitgliedstaaten. Für die Zukunft könnte ich mir ein Verfahren vorstellen, das dem Defizitverfahren der Wirtschaftspolitik entspricht.

Standard: Wie geht es mit Ungarn und Orban weiter?

Reding: Wir haben in Rekordzeit 2012 Vertragsverletzungsverfahren auf den Weg gebracht. Eines wird gerade umgesetzt. Ungarn hatte damals mehr als 340 Richter und Staatsanwälte zwangspensioniert. Der Europäische Gerichtshof hat der Kommission Recht gegeben. Jetzt wollen diese Richter wieder eingestellt werden, und die Regierung muss sie auch wieder einstellen. In diesem Jahr haben wir drei blaue Briefe geschickt und Korrekturen bei den Verfassungsänderungen verlangt. Jetzt sehen wir mal, was passiert.

Standard: Wird es noch vor dem Sommer eine Entscheidung geben?

Reding: Man kann in diesen Dingen nicht schnell schießen. Die Kommission agiert, wenn sie solche Analysen macht, als quasi Justizbehörde. Alles muss juristisch hieb und stichfest sein, damit es vor dem Europäischen Gerichtshof auch Bestand hat. Da sitzen Armadas hochrangiger Juristen dran. Aber wir haben rasch reagiert. Ich erinnere mich genau, wie ich Ende 2011 einen Warnbrief an den zuständigen Justizminister in Ungarn geschrieben habe. Seither sind wir in diesen Prozeduren. Alle geben jedoch zu, dass das, was wir heute bei Ungarn tun, nicht ausreicht, auch für mögliche andere Fälle in anderen Staaten in der Zukunft. Wir brauchen wirksamere Instrumente, damit wir nicht immer nur über Vertragsverletzungsverfahren agieren müssen.

Standard: Zur Person Orban, jenseits all der juristischen Feinheiten. Ich nehme an, dass sie mit ihm auch persönlich sprechen, gibt es da eine politische Ebene, auf der sie ihm deutlich zu machen versuchen, dass er dieses Spiel nicht ewig weiterbetreiben kann, ohne das Vertrauen der Partner zu zerstören.

Reding: Ich glaube, dass die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Volkspartei sehr wohl mit Herrn Orban diese Auseinandersetzung führen. Aber bis jetzt scheint das noch nicht zu grundlegenden Änderungen geführt zu haben.

Standard: Meinen Sie, man müsste also versuchen, politischen Druck auf der höchsten Ebene auf Orban zu erhöhen?

Reding: Das ist schwierig. Vier Fünftel der Mitgliedstaaten braucht es und die Zustimmung des Europaparlaments (mit zwei Dritteln der Stimmen), um nach Artikel 7 des Vertrages festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Grundwerteverletzung besteht. Deshalb brauchen wir etwas dazwischen, um auch mit geringeren Mitteln als Stimmrechtsentzug und Ausschluss reagieren zu können.

Standard: Werden Sie wieder kandidieren für die Europawahlen?

Reding: Ja klar, das habe ich immer so gemacht. Wenn meine Partei das will, ja.

Standard: So klar ist das nicht. In Österreich hat noch nie jemand, der  EU-Kommissar werden wollte, zuvor für das Europaparlament kandidiert.

Reding: Bei mir war das so. Ich habe insgesamt fünf Mal bei Europawahlen kandidiert, war auch EU-Abgeordnete, bevor ich Kommissarin wurde. Und ich werde nächstes Jahr auch ein weiteres Mal kandidieren, weil ich überzeugt bin, dass eine Regierung sich vom Volk bestätigen lassen muss. Ich sehe die EU-Kommission als eine Regierung an.

Standard: Sie werden im Frühjahr 2014 also im Wahlkampf in Luxemburg sein? Sind sie dann freigestellt als Kommissarin?

Reding: Ich muss unbezahlten Urlaub nehmen, darf in dieser Zeit überhaupt keinen Kontakt mir der Kommission haben.

Standard: Machen das andere Kommissare auch?

Reding: Ich glaube, ich war eine der Wenigen. Aber ich bin überzeugt davon, dass dieses Modell, das bisher eher die Ausnahme war, in Zukunft die Regel sein wird. Genauso wie ich glaube, dass 2014 erstmals von den Parteien vorgeschlagene gemeinsame Spitzenkandidaten EU-weit antreten werden. Wie sich das dann auswirken wird bleibt abzuwarten. Aber 2019 wird das kodifiziert sein. Und wir werden mittelfristig eine Vertragsänderung bekommen, wonach eine Direktwahl des Präsidenten der Kommission möglich sein wird. So wie Präsidenten auch in Frankreich oder in den USA gewählt werden.

Standard: Von welchem Zeitrahmen sprechen Sie da?

Reding: Ich glaube, dass diese Entwicklung im Moment an Tempo gewinnt. Das hat mit der Krise zu tun. Vor zwanzig Jahren wurde der Maastricht-Vertrag gemacht, aber in den Jahren danach ließ man institutionell vieles so dahinplätschern.

Standard: Es gab viele Baustellen, die Währungsunion, die Erweiterung, den Abbau der Grenzkontrollen mit Schengen.

Reding: Vieles wurde nur zum Teil umgesetzt. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass es Defizite gibt, was die Wirtschafts- und Währungsunion anlangt. Das wurde letztes Jahr im Hauruck-Verfahren nachgeholt und entschieden, weil man gesehen hat, wie negativ sich diese Defizite auswirken können. Die Krise hat diesen Prozess beschleunigt. Das hätte man alles zwanzig Jahre lang tun können, in aller Ruhe.

Standard: Wird es also bald eine größere Reform des EU-Vertrages geben?

Reding: Ich setze darauf. Dies steht ohnehin aus, da zum Beispiel der Fiskalpakt, der nationale Schuldenbremsen vorsieht, und der Euro-Rettungsschirm noch 'vergemeinschaftet' werden müssen. Das heißt, Vieles, das schnell in der Krise zwischenstaatlich vereinbart wurde, muss bis 2018 im EU-Recht verankert werden. Mein Vorschlag ist, dass wir diese Gelegenheit nutzen, um anstehende Probleme auf anderen Ebenen als jenen der Wirtschafts- und Währungspolitik in Angriff zu nehmen. Verstärkte Zuständigkeiten in Justizfragen, meinem Bereich, haben wir ja erst seit 2010 durch den Lissabon-Vertrag. Da haben wir dann gesehen, dass wir eine Reihe von Fragen angehen können. Ich konnte die Verfahrensrechte für Angeklagte und Opfer auf europäischer Ebene mit Mindeststandards einführen. Das ist ein positives Beispiel.

Standard: Wo sind Mängel?

Reding: Wenn etwas schief läuft, wie in Rumänien beim Höchstgericht, oder in Ungarn hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz, da gibt es im EU-Recht eigentlich nicht viel an Möglichkeiten dagegen anzugehen außer dem, was ich die Atombombe nenne, das Artikel-7-Verfahren. Es fehlt uns jedoch ein Stadium dazwischen.

Standard:  Meinen Sie, ein Verfahren gegen ein Land wegen eines Verstoßes gegen die Grundwerte der EU nach Artikel 7, die mit Stimmentzug bzw. Ausschluss geahndet werden könnte, geht zu weit? Es kann auch nur durch sehr große Mehrheiten im Rat und Parlament durchgesetzt werden.

Reding: Das ist die große Keule, ja. Wir beginnen gerade zu diskutieren, wie wir nachbessern können, weil wir jetzt in der Praxis verstanden haben, dass das nötig ist. Es ist wie in der Wirtschafts- und Währungsunion, da brauchen wir einen EU-Finanzminister, eine gemeinsame Wirtschaftsregierung, damit man die Probleme umfassend lösen kann. Und wir brauchen eine Zuständigkeit des Parlaments dafür. Es kann ja nicht sein, dass die Eurogruppe eigentlich außerhalb des Europäischen Parlaments agiert.

Standard: Das klingt jetzt alles nach einer sehr großen EU-Vertragsreform.

Reding: Es gibt zumindest sehr viele offene Fragen. Das ist auch der Grund, warum die Kommission die Bürgerdialoge organisiert Weil wir das Gefühl hatten, dass die Bürger über Europa viel zu wenig informiert sind. Es geht aber nicht, dass wir solche grundlegenden institutionelle Änderungen dann bei einem Vertragskonvent den Bürgern vorlegen zur Abstimmung, wenn diese gar nicht wissen, worum es geht. Wir müssen jetzt schon anfangen, mit den Bürgern darüber zu diskutieren, müssen klären, was verbessert werden soll, müssen sagen, was wir wollen, und die Bürger fragen: Wie stellt ihr euch das denn vor.

Standard: Wann soll das sein?

Reding: Der Ablauf wäre: Europawahlen im Mai 2014, anschließend neue Kommission, Anfang 2015 dann der Vertragskonvent. Da sitzen die nationalen Politiker und die Europapolitiker mit den Experten beisammen und die nationalen Parlamente und das Europaparlament sind auch dabei. Das sollte man in einigen Monaten zu einem Ergebnis bringen. Und dann hätte man 2016, 2017 Zeit, das mit nationalen Referenden abzuschließen. Der neue EU-Vertrag könnte dann 2018 in Kraft treten.

Standard: Was macht sie optimistisch, dass das gelingen könnte? Derzeit gibt es eher Anzeichen, dass einige Staaten weniger Europa wollen, Stichwort Großbritannien.

Reding: Vor kurzem hat der französische Präsident die Kommission besucht. Und er hat dann erklärt, er werde versuchen mit den Franzosen eine Grundlage zu schaffen, wie man die Struktur der Union ändern kann, und zwar nicht im intergouvernementalen Sinn, sondern auf Basis des gemeinschaftlichen Vorgehens. Also, es tut sich was.

Standard: Ist der britische Premier Cameron die härteste Nuss auf dem Weg zu einem neuen Vertrag?

Reding: Schauen Sie, meine Vision ist die eines föderalen Europas. Das heißt, das wir auf europäischer Ebene lösen, was auf nationalstaatlicher Ebene nicht mehr gelöst werden kann. Es gibt einige, die diese Meinung nicht teilen. Dann gilt, dass wir uns eben zusammenraufen müssen in einem europäischen Konvent. Und dann muss die Gretchenfrage gestellt werden: Ist man dabei oder ist man nicht dabei? Wir können nicht Europa verwässern, nur damit alle dabei sein können.

Standard: Zu den Europawahlen noch eine Frage. Die Sozialdemokraten haben angekündigt, dass sie mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten europaweit in den Wahlkampf ziehen. Das dürfte Parlamentspräsident Martin Schulz aus Deutschland werden. Und es heißt, der Wahlsieger soll nächster Kommissionspräsident werden. Ganz direkt gefragt: Wollen Sie Spitzenkandidatin der europäischen Christdemokraten werden?

Reding: Die Europäische Volkspartei ist eine Parteienfamilie. Bei Ihnen in Österreich gehört die ÖVP dazu, in Luxemburg sind das die Christdemokraten. Und die EVP hat angekündigt, dass sie bis Ende des Jahres einen gemeinsamen Kandidaten präsentieren will.

Standard: Aber was ist mit Ihnen, sie sind Christdemokratin, Vizepräsidentin der EU-Kommission, seit fast 10 Jahren in der Kommission, sprechen die drei Arbeitssprachen Deutsch, Englisch, Französisch fließend, kommen aus dem EU-Traditionsland Luxemburg, eine begeisterte Europäerin, und sind last not least eine der wenigen Frauen in einer solchen Topposition. Sie werden immer wieder als mögliche Kandidatin genannt. Wollen Sie?

Reding: Das steht nicht auf meiner Agenda. Aber ich glaube schon, dass die großen Parteienfamilien in Europa jeweils mit einem gemeinsamen Kandidaten antreten werden. Es hat sich ja noch keine festgelegt, das wird erst kommen. Das hängt ja auch viel mit der Stärke der nationalen Parteien in diesen Parteienverbünden zusammen, aber auch mit den Regierungen, die da hineinspielen. Also, es ist ein sehr kompliziertes, aber gleichzeitig spannendes Bild.

Standard: So viele attraktive Kandidaten, die auch qualifiziert sind, beschlagen in Europaangelegenheiten und direkt mehrsprachig mit den Bürgern reden können, gibt es auch wieder nicht. Bei der EVP werden der polnische Premier Donald Tusk, ihr französischer Kollege Michel Barnier und Sie häufig genannt.

Reding: Wer Wahlen gewinnen kann, wer öffentlich argumentieren kann, wer auch im Fernsehen in einer Talkshow oder Diskussionssendung auftreten kann, oder bei einem Bürgerforum, der hätte Voraussetzungen. Ich glaube, dass in Zukunft in der Kommission Vollblutpolitiker sitzen werden, nicht nur an der Spitze, sondern auch als Kommissare. Daran glaube ich sehr fest. Diese Evolution hat schon begonnen, das ist nicht mehr aufzuhalten.

Standard: Wenn Sie sagen, es steht nicht auf ihrer Agenda, was heißt das dann? Dass es heute nicht auf der Tagesordnung steht, oder schließen sie das prinzipiell aus.

Reding: Es steht nicht auf meiner Agenda. Es ist viel zu früh, um über Posten zu diskutieren. Ich habe als Kommissionsvizepräsidentin, die für Justiz- und Bürgerfragen zuständig ist, alle Hände voll zu tun. Es gilt jetzt den Weg für ein demokratischeres Europa zu ebnen. Deshalb hab ich auch die Empfehlung der Kommission an die Mitgliedsstaaten auf den Weg gebracht, dass man versuchen sollte, den Wahltermin auf einen Tag festzulegen. Es wäre gut, wenn alle an einem Tag wählen, damit ganz Europa in der Früh wählen geht, und am Abend haben wir alle gemeinsam ein Ergebnis. Die nationalen Parteien sollen auch erklären, welches ihre europäische Partei ist. Sie sitzen ja in der Regel nicht unter nationaler Flagge im Europaparlament, sondern in einer Parteiengruppierung, in einer Fraktion. Es muss deutlich werden, was das Programm dieser Gruppierung ist, damit der Bürger eine klare Wahl hat.

Standard: Hat er das nicht schon über die nationale Partei?

Reding: Wenn ein österreichischer Bürger wählen geht, soll er wissen, was das Programm der europäischen Parteienfamilie ist, für die er wählt. Diese Verbindung zwischen der nationalen und der europäischen Partei muss hergestellt werden. Und die Parteienfamilien sollten – wie gesagt - auch ihren Kandidaten für den Präsidenten vorschlagen. Europa baut man nicht an einem Tag, aber die Entwicklung beschleunigt sich, davon bin ich überzeugt. Die Krise wird uns zwingen, einiges, was bisher schleppend voranging, schneller zu erledigen. Wir Europäer schießen uns selber in den Fuß, wenn jeder in einer anderen Ecke sitzt und wir gegeneinander agieren. Das hat man bei der Eurorettung gesehen. Hätte man sich vor drei Jahren vorstellen können, dass alle Staaten bereit sind, dass man ihre Haushalte und deren Entwicklung gemeinsam unter die Lupe nimmt? Nein, aber wir haben inzwischen verstanden, dass es gar nicht anders geht.

Standard:  Sie reisen in diesem Jahr durch die EU-Staaten, stellen sich in Forumsdiskussionen den Bürgern, um allgemein Europafragen zu beantworten. Welche Themen sprechen die Leute quer durch Europa dabei am meisten an? Zieht sich da ein roter Faden durch?

Reding: Was die Bürger zuallererst direkt betrifft, ist die wirtschaftliche Lage. Die Leute machen sich große Sorgen, im Süden natürlich mehr als im Norden. Man fragt sich, wie das mit der Jugend weitergeht. Wird das eine verlorene Generation der jungen Menschen sein? Wie wird es mit uns im Alter sein? Das sind nach meiner Wahrnehmung die wichtigsten Fragen.

Standard: Also nicht ihr Gebiet von Justiz- und Rechtsfragen, Grund-und Freiheitsrechte, Diskriminierung?

Reding: Sie kommen sehr schnell auch auf persönliche, individuelle Probleme zu sprechen. Die einen wollen, dass bei ihnen eine Brücke gebaut wird, die anderen wollen genau das verhindern. Oder manche wollen, dass die Kommission in einer Schule interveniert, wo ihr Bub zur Schule geht. Solche Dinge sind das, über die die Leute reden wollen.

Standard: Also ganz konkrete Sachen eigentlich, die mit Europa in dem Sinn eigentlich wenig zu tun haben. Erstaunlich bei einem Kommissarsbesuch.

Reding: Was die Leute gar nicht interessiert, das sind Institutionen und Kompetenzen. Wenn ich das mit ihnen bereden will - Fragen nach dem Europaparlament, oder wie die Kommission arbeitet, oder ob es eine europäische Regierung geben soll - da sagen die Leute dann nur: „Warum haben wir das denn noch nicht? Dann ändert doch den Vertrag." Oder wenn ich sage, die Kommission kann die Bildungsprobleme nicht lösen, weil sie nicht eingreifen darf wegen des Subsidiaritätsprinzips, dann antworten die Leute: „Ja dann nehmen Sie das doch endlich in die Hand, ändern sie den Vertrag." Was ich damit sagen will: die Menschen interessieren sich nicht für diese formalen und administrativen Sachen, oder wie die Institutionen funktionieren. Sie wollen, dass jemand die Probleme löst. Wie Gremien zusammengesetzt sind, wie sie arbeiten, das ist den Menschen relativ egal.

Standard: Und die Grundrechte?

Reding: Das kommt immer erst nachher, im Gespräch im kleineren Kreis, da geht es meist um ganz persönliche Probleme. Wenn zum Beispiel nach zehn Jahren nach der Scheidung die Eigentumsfrage noch immer nicht geklärt ist, dann kommen die Leute und gehen davon aus, die Kommission ist die letzte Instanz, die das lösen kann. Ich bekomme tausende von Briefen und Mails, bei denen es um solche ganz persönliche Rechtsprobleme geht. Es gibt viele Fälle von Vätern oder Müttern, die nicht an ihre Kinder herankommen. Das sind sehr tränenreiche Geschichten. Das ist so, wie man das als nationaler Politiker ständig erlebt.

Standard: Was schließen sie daraus?

Reding: Ich leite daraus ab, was sich in Umfragen auch bestätigt. Die Menschen haben oft mehr Vertrauen in die Kommission, glauben dass diese europaweiten Probleme besser lösen kann, als in ihre nationale Regierung. Natürlich gibt es da Unterschiede. Es ist schon so, dass man auf Brüssel, auf die EU-Institutionen gerne schimpft. Aber wenn es drauf ankommt, dann will man, dass die europäische Ebene ein Problem löst.

Standard: Bedeutet das nicht auch, dass die Kommission Politik viel zu abstrakt betreibt? Eben nicht nahe bei den Menschen und ihren Problemen?

Reding: Wir suchen gerade in den Bürgerdialogen die Nähe zu den Menschen. Ich bin von meinem Verständnis her nicht ein Verwaltungsmensch, der in Brüssel im Turm sitzt, sondern verstehe mich als Politikerin, mit der man reden kann, diskutieren kann, die man anfassen kann. Das kommt von den Bürgern auch zurück, die dann sagen, man habe dieses und jenes Problem gelöst, oder scheue sich nicht, hin und wieder auch mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Das schafft eine Vertrauensbasis. Es zeigt mir, dass die Menschen viel mehr Nähe von ihren Politikern brauchen, und wir nicht abgehoben sein dürfen. Das kommt gar nicht gut an, in der nationalen Politik nicht, aber auch nicht in der Europapolitik. Wir müssen diese Nähe viel mehr suchen.

Standard: Da sind Sie aber die Ausnahme von der Regel. EU-Kommissare sind eher dafür bekannt, dass sie für den Bürger nicht greifbar sind. Es gibt diese direkte Kommunikation kaum, Europapolitik wird sehr abstrakt gemacht und vermittelt. Müsste die Kommission nicht deutlich selbstkritischer sein?

Reding: Sicherlich gehört das auch dazu. Aber es gibt da auch noch das Problem der Vermittlung durch die Medien. Ich will keine Medienschelte machen. Aber sehen Sie doch mal, was ankommt bei den Bürgern. Ein Beispiel. Im Bürgerbericht 2010 gab es 25 Vorschläge für bürgernahe Lösungen, die wir abgearbeitet haben: So etwa wie man sein Auto ins Ausland bringt, wie man grenzüberschreitend zu seinem Recht kommt, das alles sind Sachen, über die kaum berichtet wird, die in der Regel nicht zum Bürger durchdringen - sehr positive Dinge. So ist für die Menschen schwer verständlich, dass die europäische Ebene das für sie erledigt hat.

Standard: Das mag ein Problem der Menge an Informationen sein. Aber warum sollten Medien das verschweigen wollen?

Reding:  Ich sagte ja, ich meine das nicht als Kritik. Aber man muss sehen, dass Europa für die Menschen oft schwer zu greifen ist, wenn es um positive Dinge geht. Nehmen sie die Senkung der Roaminggebühren, für die ich in der vorigen Periode als Kommissarin verantwortlich war. Das liegt schon lange zurück. Warum hat das für Aufregung gesorgt und eine breite Öffentlichkeit erreicht? Weil es zu einem Kampf kam: die kleine Kommissarin gegen die großen Telekomfirmen. Es ist im Gedächtnis der Leute geblieben, weil sich die Senkung der Tarife im Portemonnaie niedergeschlagen hat. Ich glaube aber, der Hauptgrund war auch diese Auseinandersetzung. So was wird medial stark wahrgenommen.

Standard: Das funktioniert offenbar auch so bei einem Grundrechtsthema. 2010 legten sie sich mit dem französischen Präsidenten Sarkozy an, als dieser Roma kollektiv aus Frankreich abschieben wollte. Es hat eine große Aufregung gegeben, am Ende hat er eingelenkt. Warum sind Kommissare also nicht kämpferischer? Der Kampf für die Roma hat Sie europaweit bekannt gemacht, Ihnen bei manchen große Sympathien eingebracht, oder Ablehnung.

Reding: Das zeigt: die Leute wollen gar nicht, dass man immer nur diplomatisch ist. So wie sie an institutionellen Fragen nicht interessiert sind, so wollen sie auch nicht hören, wenn jemand ihnen sagt, dass er für etwas nicht zuständig sei. Den Bürgern ist egal wer zuständig ist, oder ob Verträge leicht oder schwer zu ändern sind. Sie wollen, dass man ihre Probleme löst.

Standard: Die derzeitige Kommission unter Barroso steht im Ruf, nicht sehr kämpferisch zu sein. Die Nationalstaaten nutzen das für ihre Zwecke aus, was durch die Krise vermutlich auch noch verstärkt wird. Sollten sich die Kommissare da nicht selber mehr bei der Nase nehmen?

Reding: Wenn ich das so vergleiche, und ich bin ja jetzt schon fast zehn Jahre dabei, dann habe ich nicht den Eindruck, dass diese Kommission weniger bürgernah ist als die vorigen, oder weniger engagiert oder unverblümt. Aber man sollte nicht verallgemeinern, denn das Ganze hängt von den einzelnen Persönlichkeiten ab. Es gibt Kommissare, die zurückhaltender sind, und andere, die die Kommunikation besser können. Ich selber sehe mich als Vollblutpolitikerin die Erfahrungen in der nationalen Politik und auf lokaler Ebene hat. Ich denke das prägt.

Standard: Unter den 27 Kommissaren gibt es aber wenige dieses Typs.

Reding: Ich bin der Meinung, dass wir in der Kommission nur vom Volk direkt gewählte Politiker haben sollten.

Standard: Inwiefern?

Reding: Ich habe zum Beispiel auch als Kommissarin immer für das Europaparlament kandidiert, mir vor den Wahlen unbezahlten Urlaub genommen, damit ich Wahlkampf machen kann. Ich bin überzeugt, dass in einigen Jahren alle Kommissare aus allgemeinen Wahlen hervorgehen werden. Das wäre ganz im Sinne des Lissabon-Vertrages. Er sieht vor, dass die Kommission auf Basis der Resultate der vorangegangenen Europawahlen zusammengesetzt sein muss. Da wird sich etwas bewegen. (Langfassung des in DER STANDARD, 1.6.2013, erschienenen Interviews)