"Das ist diese Gefahr der falschen Naivität, der falschen Unmittelbarkeit, dass man so tut, als würde man aus dem Kopf eines Kindes heraus sprechen": Karl-Markus Gauß.

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STANDARD: Herr Gauß, ich möchte Sie in Ihrer Eigenschaft als Schriftsteller, der soeben ein Buch über seine Kindheit geschrieben hat, mit einem alten und vielleicht auch schon ein wenig abgegriffenen Zitat von Pablo Picasso konfrontieren, das da lautet: "Man braucht sehr lange, um jung zu werden." Haben Sie auch lange gebraucht, um beim Schreiben wieder jung zu werden?

Karl-Markus Gauß: Ich glaube, dass sich ein Schriftsteller, der sich mit seiner Kindheit auseinandersetzt, zwei hauptsächlichen Gefahren gegenübersieht, und das ist beim Schreiben mehr der Fall als bei einem Maler wie Picasso. Das eine ist die Gefahr der falschen Naivität, der falschen Unmittelbarkeit, dass man so tut, als würde man aus dem Kopf des Kindes heraus sprechen. Die andere Gefahr ist die, dass man den Erwachsenen hernimmt, der dann das Kind auserklärt, mit seinem psychoanalytischen, sozialen, politischen etc. Wissen, und dass er aus seinem Kopf mit seinem heutigen Wissen natürlich auch genau weiß, warum dieses Kind genau zu dem Erwachsenen geworden ist, der er ist. Ich wollte weder falsch naiv sein, noch wollte ich, wie ich es in vielen meiner sonstigen Bücher mache, auf der Höhe der Reflexion agieren und kulturhistorische Zusammenhänge und politische Konnotationen dieser Kindheit explizit mit ausformulieren.

STANDARD: Eine Mischform also.

Gauß: Ja, aber nicht so, dass man sagt, die Wahrheit liegt in der Mitte. Ich wollte schon in der Perspektive des Kindes bleiben, aber auch nicht verbergen, dass ich bald sechzig werde, und auch nicht so tun, als wäre das, was ich schreibe, eins zu eins meine Kindheit. Ich habe es am Ende meines letzten Buches, Ruhm am Nachmittag, so formuliert: "Ich werde ganz getreu bei meinen Erinnerungen bleiben, um meine Kindheit neu zu erfinden."

STANDARD: Mir fallen zwei Stellen Ihres Buches ein, an denen die Perspektive des Kindes besonders plastisch und auf besonders charakteristische Weise hervortritt. Im einen Fall verunglückt ein Bub, der Ihnen einen bösen Streich gespielt hat, tödlich. Sie schreiben sich das als einen von Ihnen selbst verursachten Rachetriumph zu und erschrecken über Ihre - vermeintliche - Allmacht. Und als Sie sich dann später an einer Lehrerin rächen wollen, stellen Sie fest, dass die Rache nicht funktioniert und die Lehrerin am Leben bleibt.

Gauß: Ja, das beschreibt eine Grenze, einen Entwicklungsschritt. Im ersten Fall bin ich noch in einem magischen kindlichen Denken befangen und glaube, dass alles, was ich denke oder was ich mir wünsche, eine unmittelbare Auswirkung auf die Realität hat. Und beim zweiten Mal merke ich dann schon: Na hoppla, ich krieg mit meinen bösen Wünschen ja gar nix mehr zsamm. Die Lehrerin, der ich den Tod gewünscht habe, ist übrigens 96 Jahre alt geworden.

STANDARD: Man spricht oft davon, dass einem mit zunehmendem Alter die Kindheit näherrückt, dass man leichter Zugang zu ihr findet. Ist das eine Erfahrung, die Sie bestätigen können?

Gauß: Das Erinnern wird einerseits schwerer, weil viele Dinge schon so lange zurückliegen und man sie erst wieder heraufholen muss. Es wird aber auch leichter, weil die Obsessionen, der Kampf, auch der Kampf mit Autoritäten, die damals die Kindheit prägten, nicht mehr diese Gewaltsamkeit haben. Das gilt auch für Leute, die damals richtige Schreckfiguren für mich waren ...

STANDARD: ... die Nachbarin, die Frau Eder ...

Gauß: ... ja, die kommt in dem Buch eigentlich am schlechtesten weg, aber ich muss diese Schreckfiguren heute nicht mehr hassen. Die arme Frau modert schon 40 Jahre in ihrem Grab dahin, da brauch ich nicht auch noch einen bösen Kampf und eine erbitterte Abrechnung mit ihr führen.

STANDARD: Kann man sagen, das Erinnern wird dadurch leichter, dass die Leute tot sind?

Gauß: Ja, und vor allem dadurch, dass mit ihnen auch eine ganze Welt gestorben ist. Ich hatte beim Schreiben dieses Buches anfänglich das Gefühl, das ist etwas ganz anderes als das, was ich sonst mache, aber in einem ist es nicht anders: nämlich indem ich Haltungen, Typen, Figuren, die heute nicht mehr existieren - und das ist jetzt ein geschwollener Ausdruck: "retten" wollte. Ich möchte einem heute Zwanzig- oder Dreißigjährigen zum Beispiel vermitteln, dass damals in den 1950er-Jahren der Krieg noch sehr nahe war, dass es unheimlich viele Kriegsversehrte gegeben hat. Bei uns in der Siedlung hat jeder vierte Mann etwas gehabt, einen Klumpfuß, eine fehlende Hand, eine Delle am Kopf. Diese Leute zu sehen war ein einprägsames Erlebnis, nur konnte man das als Kind eben noch nicht richtig verstehen und einordnen.

Ich habe noch keine öffentliche Lesung aus dem Buch gemacht, aber ich habe Freunden in meinem Alter daraus vorgelesen, und es war interessant zu sehen, wie bei ihnen Erinnerungsprozesse angestoßen wurden. Es gibt da etwa eine Szene in dem Buch, wo ich mit dem Roller stürze, mich verletze, die Wunde wird mit Cibazol-Puder behandelt, und ich beschreibe, wie ich mit dem Wundschorf umgehe, wie ich anfange, daran herumzukletzeln und ihn abzuheben. Heute gibt's das Cibazol gar nicht mehr, und die Ärzte, die ich kenne, sagen mir, das war als Medikament auch ganz ungeeignet, aber wenn ich diese Schilderung vorlese, beginnen die Leute sich zu erinnern, wie sie selbst an ihren Wunden herumgekletzelt haben.

STANDARD: Ich darf Ihnen versichern, dass Sie durchaus auch bei mir ein paar verborgene Erinnerungen getriggert haben. Etwa die an die Werbung für den Puschkin-Wodka und diese auf ein Plastikstäbchen aufgespießte kandierte Kirsche, die ins Glas gehalten wird. Oder an das Vierteltelefon.

Gauß: Ja, das Vierteltelefon, das wollte ich auch herüberretten, obwohl es ja, ehrlich gesagt, keine Freude war, mit einem Vierteltelefon zu telefonieren.

STANDARD: Diese ganzen Einzelheiten, die Sie im Lauf des Schreibens zutage gefördert haben, war das eigentlich ein mühseliger Prozess, das alles zu heben?

Gauß: Nein, eigentlich nicht, das Schreiben dieses Buches ist mir fast am leichtesten gefallen. Schwierig war dann nur, dass ich von den 200 Seiten, die ich schon hatte, fast die Hälfte eindampfen oder reduzieren musste. Denn ich wollte einerseits ganz konkret bei meiner Kindheit bleiben, aber ich wollte auch nur gerade diese Dinge drin haben, bei denen es Anschlussmöglichkeiten für andere gibt; Dinge, die ganz persönlich sind, aber an die meine Generation anschließen kann und die für die kommende Generation verloren wären, wenn man sie nicht ins Gedächtnis rettet. Da fällt dann vieles, was als Anekdote ganz witzig wäre, als zu privatistisch heraus. Außerdem habe ich vieles herausgestrichen oder verändert, was noch lebende Menschen kompromittieren könnte. Mit meinen im Buch vorkommenden Schwestern hat es zum Beispiel eine ganz spezielle Bewandtnis. Und auch die von Ihnen erwähnte Frau Eder hieß in Wahrheit anders.

Ich habe ungefähr ein Jahr an dem Buch gearbeitet, und fast die Hälfte davon hat das Reduzieren eingenommen. Aber ich habe es sehr gern geschrieben. Ich finde ja überhaupt dieses Jammern der Schriftsteller, "um Himmels willen, was hab ich für einen schweren Scheißberuf, weißes Blatt, blauer Bildschirm etc.", deplatziert. Wenn ich einmal leide und mich drei Tage gequält und nichts weitergebracht habe, dann stell ich mich ans Fenster und sehe lauter Herren in meinem Alter mit einer Aktentasche zu einer Sitzung eilen, und denke ich mir: Herrlich, was habe ich für ein klasses Leben! Ich muss jetzt nicht als Oberchef oder Unterchef bei einer Sitzung im Magistrat sitzen und dagegen kämpfen, dass ich vor lauter Langeweile oder Überdruss tot vom Sessel falle. (Christoph Winder, Album, DER STANDARD, 27./28.7.2013)