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Kontroverse: Für die einen ist Milch ein gesundheitsfördernder Kalziumspender, für andere ein verschleimendes Lebensmittel.

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Wien - Kuhmilch ist mehr als ein Getränk! Schon die Bibel schildert das Gelobte Land als einen Ort, an dem Milch und Honig fließen. Aber, einmal ketzerisch gefragt, wäre das überhaupt ein guter Ort zum Leben? John van Limburg Stirum, Leiter der Seegartenklinik in Kilchberg bei Zürich, ist sich da nicht sicher. Gerade bei Kindern kommt es nicht selten zu Allergien gegen Milch und Milchprodukte, weiß er aus Erfahrung. "Rate ich in solchen Fällen aber, die Kuhmilch wegzulassen, dann reagieren viele Eltern völlig verstört", erzählt der Mediziner. Viele Menschen glauben, dass Milch eine Art Wundermittel für die Gesundheit sei, sagt er. "Da haben die PR-Abteilungen der Milchindustrie erstklassige Arbeit geleistet."

Werbesprüche wie "Milch macht müde Männer munter!" oder "Die Milch macht's!" haben Generationen geprägt. Wer regelmäßig Kuhmilch trinke, stärke sein Immunsystem, werde gesund und kräftig und härte seine Knochen, heißt es. Doch die Resultate jüngster wissenschaftlicher Studien deuten in eine andere Richtung. Seither ist um die Kuhmilch ein Glaubenskrieg ausgebrochen: Milchkonsum fördere sogar das Risiko Knochenbrüche und Osteoporose (Knochenabbau) zu erleiden, behaupten manche Forscher. Bei Erkältungen soll man die Finger von Kuhmilch lassen, da sie die Atemwege verschleime, sagen Ärzte.

Auf veganen Auswegen

Ja einige bringen sogar Krebserkrankungen mit Inhaltsstoffen der Milch in Verbindung. Für immer mehr Menschen ist das ein zusätzlicher Grund, sich vegan zu ernähren, also auf Milch und alle anderen tierischen Produkte zu verzichten. Doch wie gesund oder schädlich ist Kuhmilch wirklich?

Befürworter des Milchtrinkens verweisen in erster Linie auf das Kalzium, das die Knochen härte. Tatsächlich enthält Kuhmilch große Mengen davon. Als jedoch Wissenschafter in Vietnam die Knochensubstanz von 105 streng vegan lebenden buddhistischen Nonnen im Alter zwischen 50 und 85 Jahren untersuchten, waren deren Knochen kerngesund. Die Statistik zeigt: Generell leiden die Menschen in Asien und Afrika, wo nur sehr wenig Kuhmilch getrunken wird, nicht häufiger an brüchigen Knochen als in Milchhochburgen wie Österreich, Deutschland oder der Schweiz.

Amerikanische Forscher der Universität Alabama werteten dutzende Studien zu diesem Thema aus. Das Ergebnis: Der regelmäßige Konsum von Milch und Milchprodukten hat nur einen geringen Einfluss auf die Knochendichte. Als Wissenschafter der Harvard Medical School in Boston in einer Langzeitstudie 35.000 Männer untersuchten, klagten die Testpersonen, die bereits während ihrer Jugend viel Kuhmilch getrunken hatten, in höherem Alter sogar häufiger über Hüftfrakturen als die Milchmuffel.

Barbara Walther vom Institut für Lebensmittelwissenschaften der Agroscope in Liebefeld ist dennoch überzeugt, dass Milchtrinken gut für die Knochen ist. "Oft wird aber vergessen, dass Kalzium nur ein Faktor von vielen ist", sagt die Expertin. Auch eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D, Proteinen und Phosphat - die alle in Milch enthalten sind - sowie genügend Bewegung helfe bei der Prävention vor brüchigen Knochen. Die Milch macht's also vielleicht doch - aber nicht allein.

Unstrittig ist, dass ein Großteil der Menschen weltweit Kuhmilch nicht verträgt, da ihnen das Enzym fehlt, um Milchzucker (Laktose) zu zerlegen. Trinken sie Milch, sind Blähungen, Magenschmerzen und Durchfall die Folge.

Wohl erst vor rund 8500 Jahren begannen erste Menschen, Kuhmilch zu trinken. Eine Veränderung im Erbgut ermöglichte es ihnen, den Milchzucker - der auch in menschlicher Muttermilch vorhanden ist und von fast allen Babys vertragen wird - auch im Erwachsenenalter zu verdauen. Wahrscheinlich war dieser Vorteil für die frühen Bauerngemeinschaften von existenzieller Bedeutung: So hatten sie eine zusätzliche Nahrungsquelle und konnten Missernten kompensieren.

In Mitteleuropa vertragen inzwischen rund 70 Prozent der Menschen Laktose. Doch die gesundheitlichen Vorteile des Milchtrinkens werden immer mehr hinterfragt. Viele Eltern von Kindern, die unter Asthma leiden, glauben, dass Kuhmilch die Symptome verschlimmert. Bei Erkältungskrankheiten raten manche Ärzte von Kuhmilch ab. Und wird die Galaktose, die im Milchzucker steckt, nicht "Schleimzucker" genannt? Schadet Kuhmilch also bei Schnupfen, Husten, Asthma und Heiserkeit?

Verschleimende Wirkung

"Man muss differenzieren", sagt John van Limburg Stirum. Bei trockenem Reizhusten etwa sei das Hausmittel "Milch mit Honig" zu empfehlen. "Kommen hingegen Patienten mit starkem Schnupfen oder chronischer Nebenhöhlenentzündung in meine Sprechstunde, rate ich immer, auf Kuhmilch zu verzichten. Oft gehen die Symptome daraufhin nach wenigen Tagen zurück." Die Traditionelle chinesische Medizin, die er ebenfalls studiert hat, schreibt Milch die Attribute "feucht und kalt" zu und bezeichnet sie als "schleimbildend", was der Arzt immer wieder bestätigt sieht.

"Aus Studien gibt es keinen Hinweis darauf, dass Kuhmilch die Schleimbildung fördert", sagt Barbara Walther, Ernährungswissenschafterin von Agroscope. Trotzdem haben viele Menschen dieses Gefühl. Offenbar spielt die Erwartungshaltung eine wichtige Rolle. Der Mediziner van Limburg Stirum hält dies aber letztlich für nicht so wichtig. "Entscheidend ist, wie sich die Patienten fühlen und ob sie gesund werden", sagt er. Und gerade bei Jugendlichen mit chronischem Schnupfen habe sich der Verzicht auf Milch bewährt.

Auch bei entzündlichen rheumatischen Erkrankungen raten manche Fachleute dazu, auf Milch zu verzichten. "Das ist ein heißes Thema", sagt die Ernährungsberaterin Christina Alder aus Eglisau, die für die schweizerische Rheumaliga Patientenschulungen durchführt. "Es gibt dazu erst wenige systematische Untersuchungen, jedoch viel Erfahrungswissen." Rheumatiker reagieren oft mit verstärkten Schmerzen auf Milch und Milchprodukte und lassen diese deshalb weg, sagt Alder. "In diesem Fall suche ich mit den Patienten nach pflanzlichen Alternativen wie Nüssen, Vollgetreiden, Brokkoli, Fenchel, Spinat und Hülsenfrüchten, um ihren Kalziumbedarf zu decken." Milch enthält wie andere tierische Produkte Arachidonsäure: eine entzündungsfördernde Substanz.

"Ansonsten rate ich nicht grundsätzlich von Milch ab", sagt Christina Alder. "Schon weil es ohne sie recht anspruchsvoll ist, den Kalziumbedarf des Körpers zu decken - und Käse, Topfen und Joghurt auch wichtiges Eiweiß liefern." Sie empfiehlt Käse statt Milch. "Am besten Schaf- oder Ziegenkäse in Bioqualität."

Was radikale Milchskeptiker von sich geben, klingt mitunter sehr esoterisch. Die Geologin Jane Plant aus London etwa beschreibt in ihrem Buch Your Life in your Hands, wie sie durch den Verzicht auf Milch ihren Brustkrebs besiegt habe, nachdem mehrere Chemotherapien zuvor keinen Erfolg brachten. Ob Kuhmilch wirklich das Wachstum von Tumoren fördern kann, ist jedoch sehr umstritten: Einige Untersuchungen legen nahe, dass der Konsum von Milch etwa für Nieren- und Prostatakrebs ein leichter Risikofaktor sein kann. Bei Magen-, Blasen- und Dickdarmkrebs hingegen scheint Milch eher einen vorbeugenden Effekt zu haben. Unter dem Strich also ein Nullsummenspiel.

Evolution und Laktose

Schon der Umstand, wie rasant sich die Fähigkeit, auch im Erwachsenenalter Milch zu verdauen, in der Evolutionsgeschichte ausgebreitet hat, spricht aus der Sicht vieler Forscher für den Konsum von Kuhmilch. "Denn hätte diese Erbgutveränderung keinen Überlebensvorteil gebracht, wäre sie von der Evolution schnell wieder eliminiert worden", sagt Barbara Walther. Auch wenn die Frage des gesundheitlichen Nutzens noch nicht abschließend beantwortet ist, sind sich viele Experten zumindest sicher: Für alle, die Laktose verdauen können, ist eine Allergie gegen Milchproteine der einzige Anlass, um aus gesundheitlichen Gründen auf Milch zu verzichten. (Till Hein, DER STANDARD, 24.6.2014)