"Wir haben in Österreich zahlreiche Personen mit Universitätsabschlüssen, die nur Hilfstätigkeiten ausüben, beziehungsweise arbeitet ein Großteil der Migranten in Bereichen unter ihrer Qualifikation", sagt Soziologe August Gächter.

Foto: Siniša Puktalović

daStandard.at: Wenn wir uns den Migrations- und Flüchtlingszustrom der letzten Jahre ansehen, inwiefern unterscheidet sich dieser von den davorliegenden Migrationsbewegungen?

Gächter: Die Migranten der letzten zehn bis fünfzehn Jahren sind viel gebildeter als es jene in der Vergangenheit gewesen sind. Wir erleben derzeit die qualifizierteste Einwanderung, die es bei uns je gab.

daStandard.at: Gilt das auch für die aktuellen Flüchtlinge?

Gächter: Ja, die vielen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Pakistan, die derzeit nach Österreich kommen, sind überdurchschnittlich gebildet. Wir könnten ganze Universitäten mit ihnen füllen.

daStandard.at: Gibt es auch Statistiken über den Bildungsgrad der Einwanderer der letzten Jahre?

Gächter: Von den Einwanderern, die in den letzten zehn Jahren zugezogen sind, hat etwa die Hälfte einen Abschluss von der Matura aufwärts. Etwa ein Viertel hat mittlere Bildung und etwa ein Viertel geringe Bildung. Der öffentliche Fokus liegt leider sehr oft auf dem Viertel mit geringer Bildung.

daStandard.at: Es scheint so, als würde sich die österreichische Öffentlichkeit sehr schwertun, sich an die neue Form der Migration zu gewöhnen und die Klischees, die es über die Gastarbeitermigration gibt, werden unreflektiert auf die neue Einwanderung übertragen.

Gächter: Genau, das ist ein Anachronismus. Wenn an die Migration gedacht wird, denken viele tatsächlich noch an die alte Gastarbeitermigration. Gedanklich hat man sich da noch nicht umgestellt. Die heutige Migration hat aber wenig mit der Gastarbeitermigration gemein, das sieht man anhand der Qualifikationen der Migranten.

daStandard.at: Die AMS-Zahlen belegen das aber nur zum Teil. Woran liegt das?

Gächter: Das AMS sollte es zwar nicht mehr, tut es aber leider vielfach noch immer – nämlich nur die in Österreich formal anerkannten Qualifikationen erfassen. Da kann dann auch bei einer Universitätsprofessorin in der AMS-Datenbank "Pflichtschulabschluss" stehen. Es gibt zwar innerhalb des AMS teils lebhafte Debatten, diese Praxis zu verändern, derzeit ist das aber leider noch traurige Realität.

daStandard.at: Für die beteiligten Personen ist das sehr tragisch, weil sie ja auf dieser Grundlage vermittelt werden.

Gächter: Ja, wir haben in Österreich zahlreiche Personen mit Universitätsabschlüssen, die nur Hilfstätigkeiten ausüben, beziehungsweise arbeitet ein Großteil der Migranten in Bereichen unter ihrer Qualifikation. Die OECD hat dieses Phänomen 2011 international verglichen und festgestellt, dass es in Österreich besonders stark ausgeprägt ist.

daStandard.at: Woran liegt das?

Gächter: Das ist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Einerseits haben wir in Österreich das Nostrifizierungsproblem, das zur Dequalifizierung sehr vieler Migrantinnen und Migranten führt. Ich habe eine Untersuchung für das AMS Tirol gemacht und Personalleiterinnen von größeren Betrieben fiktive Bewerbungen zur Beurteilung vorgelegt. In der statistischen Auswertung hat sich gezeigt, dass sie an sich kein Problem hätten, qualifiziertes migrantisches Personal einzustellen. Aber wenn die Qualifikationen in Österreich nicht formal anerkannt sind, also in dem Moment, wo die Betriebe selbst die Entscheidung treffen müssen, ob diese Qualifikation den Anforderungen entspricht, ist das für die meisten ein Riesenproblem.

Andererseits, vermute ich, liegt das daran, dass wir eine starke Dominanz von mittlerer Bildung am österreichischen Arbeitsmarkt haben – vor allem Lehrabschlüsse, außer in Wien –, wie es das selten irgendwo gibt. Die meisten Migrantinnen und Migranten haben aber eben Matura oder höher. Es wäre vorstellbar, dass wenn in Österreich höhere Bildung relevanter wird, dass dann auch der Umgang mit höherer Bildung aus dem Ausland weniger verkrampft sein wird. Auch heute ist der Umgang in Wien ein anderer als in Niederösterreich. Das sieht man anhand der Daten ganz deutlich.

daStandard.at: Sie haben vorhin gesagt, dass man mit den zahlreichen Flüchtlingen eine ganze Hochschule betreiben könnte. Warum nützt Österreich dieses vorhandene Wissen nicht?

Gächter: Das frage ich mich auch schon seit Jahren. Wir haben so viele Migranten mit hoher Bildung bei uns und laufend kommen neue dazu. Das sind tausende von Menschen, von denen wir hier sprechen. Mit diesen Leuten, wahrscheinlich sogar allein mit denen, die gerade im Asylverfahren sind, könnte man eine Universität gründen, die "Flüchtlingsuni". Ich bin auch nicht der einzige, der so denkt.

daStandard.at: Haben sie schon konkretere Vorschläge, wie so eine Universität aussehen sollte?

Gächter: Ich habe mir schon einige Gedanken dazu gemacht, aber ich bin kein großer Organisator. Die Personen könnten entweder in ihren Fächern, über ihre Länder und ihre Erfahrungen oder ihre Sprache unterrichten. Das muss auch nicht auf Deutsch sein. Es gibt genug Leute, die das auch auf Englisch oder in den Muttersprachen der Vortragenden hören und verstehen könnten. Ich denke da nicht rein an konventionelle Studierende, sondern Hörerinnen und Hörer aller Altersgruppen, die sich informieren wollen. Selbst wenn sie zunächst noch keine ECTS-Punkte dafür bekämen, da am Anfang so ein Angebot wahrscheinlich nicht akkreditiert wäre. Und sie wären vermutlich auch bereit, einen adäquaten Beitrag zu spenden oder zu zahlen.

Ich denke, dass das auch für ausländische Studierende interessant wäre. Für Österreich wäre das quasi Export von Bildungsdienstleistungen, und dann kann die sprichwörtliche tschetschenische Universitätsprofessorin für russische Literatur dies auch ein paar Monate im Jahr unterrichten. Da könnten wir sicher mehr darauf stolz sein, als sie putzen zu schicken. (Siniša Puktalović, 14.8.2015)