Die Debatte als Youtube-Video

IWMVienna

Wien – Zwei Stunden und 55 Minuten benötigte der Serbe Novak Djokovic am 12. Juli 2015 dazu, sich im Finale von Wimbledon gegen Roger Federer den ersten Matchball zu erspielen. Für die Zuschauer wird es nicht von Interesse gewesen sein. Aber der Ball, den Djokovic in jenem Augenblick servierte, hatte eine besondere Reise hinter sich.

Forscher an der Warwick Business School haben errechnet, dass der Tennisball 80.400 Kilometer zurücklegt, ehe er in Wimbledon ankommt. Der Produzent, eine britische Firma namens Slazenger, lässt die Bälle seit einigen Jahren auf den Philippinen herstellen. Die dort verarbeiteten Einzelteile werden aus elf Ländern geliefert, darunter Neuseeland, China, Taiwan, Indonesien, Japan, Griechenland und die USA.

Der Wimbledon-Ball spielte am Sonntag im Burgtheater in der Diskussion zu der Frage "Wozu brauchen wir TTIP?" eine nicht unwesentliche Rolle. Denn für Lutz Güllner, den Vertreter der EU-Kommission in der Debatte vor rund 800 Zuhörern, ist der Tennisball ein perfektes Beispiel dafür, dass die EU vom geplanten Freihandelsabkommen mit den USA stark profitieren könnte.

TTIP ist besonders in Österreich umstritten. Rund 800 Zuhörer lauschten der Diskussion über das Abkommen am Sonntag im Wiener Burgtheater.
Foto: Cremer

Der Ball ist tatsächlich repräsentativ für die veränderte Realität in der internationalen Warenproduktion. Während früher vor allem mit Fertigprodukten gehandelt wurde, bestehen heute 70 Prozent des Welthandels aus der Verschiffung von Einzelteilen. Es haben sich regionale Wertschöpfungsketten gebildet – in Asien, Südamerika und Europa -, an denen immer mehr Staaten beteiligt sind.

Zugleich aber fehlt, wie Güllner ausführte, jede internationale Ordnungsmacht für den Freihandel. In der Welthandelsorganisation WTO stecken entsprechende Verhandlungen seit Jahren fest. Deshalb erproben immer mehr Länder regionale Partnerschaften. In diesen werden Produktnormen festgelegt und Standards für Umweltschutz und Arbeitsrecht definiert. Wenn die EU bei dieser Entwicklung nicht nur "passiv" zusehen wolle, müsse sie selbst aktiv werden, so Güllner.

TTIP werde Europa in seinen Augen nicht nur mehr Wohlstand bringen. Das Abkommen sorge zusätzlich dafür, dass die EU künftig die Marschrichtung für den Handel mitbestimmen kann.

Éva Dessewffy von der Arbeiterkammer befürchtet Deregulierung.
Foto: Cremer

Diese Thesen provozierten bei der von Shalini Randeria, der Rektorin des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), geleiteten Diskussion jede Menge Widerspruch. Und das belebte die ohnehin recht kurzweilige Debatte umso mehr.

Vehement gegen TTIP argumentierten am Podium im Burgtheater Éva Dessewffy von der Arbeiterkammer und die Autorin und Zeit-Journalistin Petra Pinzler. Beide beklagten, dass die EU trotz aller Lippenbekenntnisse wenig dafür tue, um höhere Standards im Vertrag mit den USA durchzusetzen.

Beispiel Arbeitnehmerschutz: Die Vereinigten Staaten haben nur zwei von acht wichtigen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) unterzeichnet. So haben die USA nie jenen ILO-Vertrag angenommen, der Arbeitnehmern ein Recht auf Kollektivverträge zuspricht. Doch die EU übe an diesem Punkt auch keinen Druck aus, so Dessewffy.

Die Autorin Petra Pinzler: Bürger haben kein Mitspracherecht bei TTIP.

Dabei führen weniger Kollektivverträge und der in den USA geringere Einfluss von Gewerkschaften dazu, dass bestimmte Sektoren billiger als in Europa produzieren können. Sollte TTIP in Kraft treten, werde Europa deshalb die eigenen Standards absenken müssen, weil man ansonsten nicht konkurrenzfähig bleibe.

Dessewffy kritisierte zudem, dass die EU auch öffentliche Dienstleistungen nicht aus dem Anwendungsbereich des Abkommens ausnehmen wolle. Das brachte ihr wütende Zwischenrufe Güllners ein: "Das stimmt nicht. Sie können nicht einfach etwas behaupten, was nicht den Fakten entspricht."

Druck aus Übersee

Die Kritik der TTIP-Gegner provozierte den streitbaren Chef des Thinktanks Agenda Austria, Franz Schellhorn. "Haben Sie wirklich das Gefühl, dass in Amerika alles so schrecklich ist?", fragte er Dessewffy. Es sei doch ein völliger Irrglaube, dass die Standards in Europa um so vieles höher seien. Der VW-Skandal, von dem Europas Pkw-Aufseher jahrelang nichts mitbekommen habe, sei der beste Beleg dafür.

Mit TTIP habe die EU nicht unbedingt etwas zu gewinnen. Aber ohne den Vertrag werde die Zukunft des globalen Welthandels an Europa vorbeilaufen, die Union habe also viel zu verlieren, so Schellhorn.

Der Jurist Peter-Tobias Stoll.
Lutz Güllner von der EU-Kommission

Peter-Tobias Stoll merkte dazu an, dass die EU-Kommission zu hohe Erwartungen schüre. Es gebe weltweit mehr als 400 Freihandelsabkommen. Wer davon wie profitiert, sei serös gar nicht abschätzbar. Wenn die globalen Produktionsketten immer mehr Länder einbeziehen, sei auch uneinsichtig, warum die EU ihr Heil ausgerechnet in bilateralen Abkommen wie TTIP suche.

Die Autorin Pinzler kritisierte, dass bei den TTIP-Verhandlungen von Anfang an vieles falsch gelaufen sei: So wurden die Gespräche unter großer Geheimhaltung geführt. Nicht einmal das Verhandlungsmandat der EU-Kommission sei zunächst veröffentlicht worden. Aber nicht nur die Verhandlungen liefen intransparent. Wenn es einmal ein Ergebnis gibt, hätten die Bürger kein Mitspracherecht. So wurde tatsächlich im vergangenen Jahr das Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (Ceta) ausverhandelt.

Die EU-Kommission will den Vertrag als Ganzes durch die nationalen Parlamente und das EU-Parlament durchwinken und warnt davor, Änderungen hineinzuverhandeln, weil dies Begehrlichkeiten bei den Kanadiern wecken könnte. Pinzler: "Dadurch bekommen die EU-Bürger aber das Gefühl, dass solche Verträge überhaupt nicht mehr rückgängig gemacht werden können."

Franz Schellhorn, Chef der Agenda Austria.

Gegen Ende der Diskussionsveranstaltung, die in Kooperation mit dem IWM, dem Burgtheater, der Erste-Stiftung und dem STANDARD stattfand, wurde es dann noch einmal hitzig, als die Sprache auf die Investorenschiedsgerichte kam. Schellhorn kritisierte, dass die TTIP-Gegner gern falsche Argumente aus dem Hut zaubern: Da werde ständig behauptet, dass Länder wegen der Klagen von Firmen vor Schiedsgerichten ihre Gesetze ändern müssen.

Als Beleg dafür werde etwa die Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall angeführt, das Unternehmen geht ja gegen die Bundesrepublik Deutschland nach deren Atomausstieg vor. Tatsächlich wolle der Konzern aber nicht die Gesetze ändern, sondern eine Entschädigung, weil Atomkraftwerke entgegen früheren Versprechungen der Politik abgedreht werden. "Schlimm genug", sagte Dessewffy. Warum soll die Allgemeinheit für legitime politische Anliegen eine Strafe bezahlen?

Gewonnen hat übrigens Novak Djokovic, also nicht in der Diskussion, sondern beim Wimbledon-Finale. (András Szigetvari, 18.1.2016)