Die Versorgung mit ausreichendem Grundeinkommen würde zu mehr Kreativität und Risikobereitschaft führen.

Illustration: Armin Karner

Vom ökonomischen Zwang befreit, würden viele Menschen nur noch in interessanten und begehrten Jobs arbeiten wollen.

Illustration: Armin Karner

Nach monatelanger Vorbereitungszeit rückt der Tag der Entscheidung für Heleen de Boer langsam näher. Die Gemeinderätin in Utrecht, der viergrößten Stadt in den Niederlanden, ist die Mitinitiatorin eines gewagten Sozialexperiments.

Wie in Europa üblich gibt es auch in den Niederlanden Sozialhilfe nur bei der Erfüllung zahlreicher Auflagen. Geld bekommt etwa nur, wer arbeitswillig ist und keinen Job findet sowie über kein nennenswertes Vermögen verfügt. Aber was, wenn man diese Vorgaben allesamt streicht? 450 Testpersonen will die Stadt Utrecht deshalb auswählen. Jeder von ihnen soll 950 Euro pro Monat erhalten, für einen Zweipersonenhaushalt gibt es 1350 Euro.

Die Stadt will die Menschen in fünf Testgruppen einteilen. In jeder wird es andere Auflagen geben, die erfüllt werden müssen, um das Geld von der Stadt zu bekommen. In einer Gruppe gibt es die Unterstützung aber ohne Wenn und Aber, das heißt egal, ob man reich oder arm ist, etwas arbeitet oder daran gar nicht interessiert ist. Getestet wird, was geschieht, wenn Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten.

Warten auf grünes Licht

"Suchen die Leute trotzdem nach Arbeit, sinken oder steigen die Kosten für die Stadt, ändert sich das soziale Verhalten der Menschen? All das wollen wir endlich testen", erzählt Heleen de Boer. Doch noch fehlt das grüne Licht für das Experiment, das die Stadt gemeinsam mit dem Ökonomen Loek Groot von der lokalen Universität durchführen will.

Die niederländische Regierung in Den Haag muss aus juristischen Gründen grünes Licht geben, wodurch das Thema zum Politikum geworden ist. Nachdem Utrecht im Sommer 2015 angekündigt hat, mit dem Versuch zu starten, haben auch Maastricht, Enschede und Nijmegen angekündigt, ähnliche Tests starten zu wollen.

Aber ist es fair, Menschen 950 Euro zu bezahlen, die das Geld nicht brauchen, weil sie ohnehin gut verdienen? Das ist im Rahmen des Experiments durchaus möglich. Und könnten Arbeitslose jedes Interesse an einem Job verlieren, weil sie sowieso abgesichert sind – darüber müssen Regierung und Stadtverwaltung nun beraten.

Unterschiedliche Zugänge

Diesbezüglich verfügt die Wissenschaft bereits über empirische Erkenntnisse, wie der Soziologe Georg Vobruba von der Universität Leipzig unter Verweis auf Experimente in einigen US-Städten wie Seattle oder Denver in den 1970er-Jahren berichtet. "Die Ergebnisse haben gezeigt, dass die Effekte auf das Angebot auf den Arbeitsmarkt moderat ausgefallen sind", sagt der emeritierte Professor im Gespräch mit dem STANDARD. "Dass dann keiner mehr arbeiten geht, ist eine absurde Vorstellung."

Sicher ist, dass Utrecht mit dem Sozialexperiment den Nerv der Zeit trifft. Die Idee einer universellen Grundsicherung wird seit Jahrzehnten diskutiert – umgesetzt ist das Konzept bisher nirgends. Doch die Befürworter der Idee verspüren weltweit Auftrieb.

130.000 Unterschriften in der Schweiz

So wird heuer in der Schweiz über eine Volksinitiative zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abgestimmt (siehe Interview mit Daniel Häni). Die Initiative, hinter der eine Gruppe von Künstlern, Publizisten und Intellektuellen steht, wird zwar von einer deutlichen Mehrheit im Schweizer Parlament abgelehnt. Aber 130.000 Eidgenossen haben den Antrag zur Durchführung der Volksbefragung unterschrieben.

Kommende Woche soll der Termin für die Abstimmung festgelegt werden. Auch in Finnland werden Versuche ausgearbeitet, mit denen die Sozialämter die Grundsicherung erproben wollen.

Zustimmung von links und rechts

Das Spannende ist, dass die klassischen politischen Zuordnungsversuche bei dem Thema nicht so leicht fallen: Es gibt unter Linken wie Rechten Unterstützer und erbitterte Gegner des Grundeinkommens. Den meisten fällt es gar nicht so leicht, sich festzulegen. In Österreich etwa wird die Einführung der Absicherung für alle nur von der KPÖ mehrheitlich propagiert. Auch in der SPÖ gibt es Sympathisanten, aber viele, die das Konzept ablehnen. Die deutsche Linke hingegen ist in der Frage gespalten, das globalisierungskritische Netzwerk Attac beurteilt die Frage differenziert.

Andererseits gibt es auch unter Konservativen und Wirtschaftsliberalen Denker und Politiker, die ein Grundeinkommen fordern. Der österreichische Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August Hayek war einer von ihnen.

Ende der Stigmatisierung

Aus linker Sicht erhoffen viele, die Armut mildern zu können. Soziale Absicherung, ohne Pflicht zur Leistung, lautet das Schlagwort. Den Menschen bliebe im Idealfall mehr Zeit für Freizeit, Familie und Selbsterfüllung. Bei einem Grundeinkommen in seiner radikalen Form hätte jeder Wohnsitzbürger und jedes Kind einen Anspruch auf die Leistung. Das mit der Sozialhilfe oft verbundene Stigma der Almosen wäre damit beseitigt.

Die Versorgung mit ausreichendem Grundeinkommen würde laut dem Soziologen Vobruba zu mehr Kreativität und Risikobereitschaft führen, was sich fördernd auf das Unternehmertum in einer Gesellschaft auswirken sollte. Die größten positiven Effekte erwartet er im unteren Einkommensbereich, wo "am Ende des Geldes oft noch viel Monat übrig ist".

Ein richtiger Markt

Dort erwartet Vobruba auch eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse, da Arbeitgeber Angestellten auf Augenhöhe begegnen müssten. Im Niedriglohnsektor, in dem zumeist unbeliebte Tätigkeiten ausgeübt werden, würden die Einkommen steigen, um die benötigten Anreize zu schaffen. Vom ökonomischen Zwang befreit, würden im Gegenzug viele Menschen nur noch in interessanten und begehrten Jobs arbeiten wollen. Das zusätzliche Arbeitskräfteangebot würde hier zu einem Sinken der Löhne führen. "Das würde den Arbeitsmarkt stärker zu einem richtigen Markt machen", sagt Vobruba.

In diesem Punkt liegt auch der reizvolle Aspekt für Wirtschaftsliberale. In ihren Augen ist der Markt am besten dafür geeignet, Menschen ein freies Leben zu garantieren. Ist der Wettbewerb perfekt, kann kein Unternehmer Angestellte ausbeuten, weil man die Möglichkeit zum Jobwechsel hätte. Aber in der Realität funktioniert der Markt nie optimal, meint der liberale Philosoph Matt Zwolinksi von der University San Diego in einem Aufsatz zu dem Thema. Das Grundeinkommen wäre ein Ausweg aus dem Dilemma: Solange es eine garantierte Absicherung gibt, können Frustrierte jederzeit kündigen.

Viel Gegenwind

Mit dem Grundeinkommen wäre die Abschaffung etlicher anderer staatlicher Leistungen verbunden. Keine Kinderbeihilfe, keine Familienförderung, keine Pensionen, das alles würde zu gewaltigen Einsparungen im Verwaltungsapparat führen, weshalb selbst Franz Schellhorn, der Leiter des wirtschaftsliberalen Thinktanks Agenda Austria, meint, er habe "Sympathien für die Idee". Freilich komme es auf die Höhe an. Doch linke Kritiker warnen an dieser Stelle, dass das Konzept bloß als Vorwand dazu genützt werden könnte, den Sozialstaat zurechtzustutzen.

Überhaupt gibt es in beiden politischen Lagern viel Gegenwind für das Basiseinkommen.

Wenn andere Leistungen nicht zurückgefahren werden, stellt sich das Problem der Finanzierung. Als Diskussionsgrundlage für die Höhe einer Grundsicherung schlagen die Befürworter der Schweizer Initiative 2500 Franken (2280 Euro) pro Monat vor. In der teuren Schweiz liegt das deutlich unter dem Medianeinkommen.

Sinkende Produktivität

Das sei nicht zu finanzieren, heißt es in einer Stellungnahme der Schweizer Regierung. Das Model würde pro Jahr Kosten in Höhe von 26 Prozent der Wirtschaftsleistung verschlingen und neue Steuern in Höhe von umgerechnet mehr als 100 Milliarden Euro erfordern.

Auch die Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland, die den Grünen nahesteht, lehnt das Konzept ab: Um ein Grundeinkommen zu finanzieren, müssten die Steuern derart in die Höhe geschraubt werden, dass sich Arbeit für viele Menschen nicht mehr auszahlen würde. Die Produktivität der Gesellschaft würde absinken.

Zweifel an Fairness

Ein großer Teil der Gesellschaft könnte sich zudem vom Arbeitsmarkt völlig abwenden und sich beginnen abzuschotten, heißt es in einer Analyse des Instituts. Ein Grundeinkommen könnte tatsächlich zu einer zunehmenden sozialen Segregation führen, warnt der Ökonom Marcus Scheiblecker vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo.

Hinzu kommen Zweifel an der Fairness des Systems: Ist es gerecht, wenn jemand nach 30 Jahren seinen Job verliert und gleich viel bekommt, wie jemand der nie arbeiten will?

Das Modell würde andererseits das Problem der verschwindenden Arbeitsplätze lösen. Vergangene Woche kam eine Studie des World Economic Forum zu dem Ergebnis, dass weltweit wegen der zunehmenden Technologisierung bis 2020 mehr als fünf Millionen Arbeitsplätze vernichtet werden. In anderen Studien heißt es, künftig könnten 20 Prozent der Menschen ausreichen, um alle benötigten Güter herzustellen.

Dauerfrustration

Um eine Revolution der übrigen 80 Prozent zu verhindern, müssten diese mit einer Basisversorgung, dem Grundeinkommen und "Tittytainment" (gebildet aus den englischen Worten für Unterhaltung und Brüste) bei Laune gehalten werden, schlug der polnisch-amerikanische Politikwissenschafter Zbigniew Kazimierz Brzezinski vor Jahren vor.

Zurück in Utrecht, sagt auch die Gemeindepolitikerin Heleen de Boer, dass es die krisenbedingt höhere Arbeitslosigkeit in den Niederlanden sei, die ein Grundeinkommen so reizvoll mache. "Die Menschen schreiben andauernd Bewerbungen und erhalten doch nur Ablehnungen. Welcher kreative Geist könnte freigesetzt werden, wenn man ihnen diese Dauerfrustration erspart", so die Politikerin. Sie selbst ist optimistisch, dass Utrecht bald schon grünes Licht bekommen wird, um den Versuch zu starten.

Mehr Vorteile als Nachteile

Der Soziologe Vobruba glaubt, dass ein Grundeinkommen mehr Vorteile als Nachteile für eine Gesellschaft bietet. Dass es dennoch in keiner Demokratie bisher flächendeckend eingeführt wurde, erklärt er mit der Verbindung von Einkommen mit Leistung, die in den Köpfen der Menschen stark verankert sei.

Zudem führt er die oft widersprüchlichen Zielsetzungen von Interessenvertretungen wie Gewerkschaften an. Als Arbeitnehmervertretung müssten diese eigentlich Grundeinkommen in ausreichender Höhe befürworten – würden dadurch allerdings auch Selbstabschaffung betreiben, da ihre Tätigkeit bei einer Umsetzung hinfällig wäre. (Andras Szigètvari, Alexander Hahn, 24.1.2016)