Mehr als 80 Jahre sind seit den dramatischen Ereignissen des Februar 1934 – im Bild Soldaten vor der Wiener Staatsoper – vergangen. Die Traumata wurden verdrängt, nicht aufgearbeitet.

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Traisen, 12. Februar 1984. Es ist Sonntag. Ein kalter, grauer Tag. Mein Vater ist zur Gedenkfeier anlässlich des 50. Jahrestags des 12. Februar 1934 ins Volksheim Traisen eingeladen. Ich begleite ihn. Ich bin gespannt auf die Feier und stolz, die Tochter eines Februarkämpfers zu sein. Als Parteiobmann der SDAP-Ortsorganisation Traisen und Gründungsmitglied des örtlichen Schutzbunds war er wie viele seiner Genossen im Februar 1934 bereit gewesen, Freiheit und Demokratie gegen die austrofaschistische Diktatur zu verteidigen.

Natürlich war er zu dieser Gedenkfeier als Redner eingeladen worden. War er doch einer der wenigen, jedenfalls aber der prominenteste der noch lebenden Zeitzeugen der Februarereignisse des Jahres 1934. Fast jeder im Ort kannte zudem seine Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Traisental.

Vaters Volksheim

Er hatte eingewilligt zu kommen, obwohl erst vor kurzem seine Frau gestorben war, die er über alles geliebt hatte. Er war 86 Jahre alt und schon etwas wackelig auf den Beinen. Wir gingen zu Fuß ins Volksheim. Ich hängte mich bei ihm ein und spürte seine Aufregung. Mein Vater sprach ja überhaupt sehr wenig, nie aber über seine Gefühle. Zu Hause hatte er mit einem stummen Nicken mein Mitkommenwollen mit leiser Verwunderung und, wie ich glaube, auch mit ein bisschen Freude zur Kenntnis genommen. Wir gingen schweigend und konzentriert; es war kalt und gatschig, auf dem nicht gepflasterten Teil unseres Wegs zum Volksheim wichen wir mehr oder weniger geschickt den Pfützen aus, die der schmelzende Schnee hinterlassen hatte; mit einem alten Mann am Arm, der nicht mehr gut zu Fuß war, keine leichte Übung. Wir schafften es aber und kamen – wie bei meinem Vater üblich – viel zu früh beim Volksheim an. Die Honoratioren der Partei, darunter der Bürgermeister, der sein politischer Ziehsohn war, und einige ältere Weggefährten meines Vaters waren auch schon da und empfingen ihn freundlich und ehrerbietig.

Wir gingen hinein. Sein Volksheim! Wie sehr hatte er darum gekämpft, dass es 1961 gebaut werden konnte. Es war ihm als Parteiobmann und Bürgermeister ein großes Anliegen gewesen, nicht nur einen großen Veranstaltungs- und Versammlungsraum zu schaffen, sondern auch eine Bibliothek und einen Lesesaal! Die Bildung der Arbeiterklasse war ihm immer schon ein Herzensanliegen gewesen, hatte er doch schon in der Zwischenkriegszeit im Kinderfreundeheim eine Bibliothek eingerichtet. Die Bibliothek war im Februar 1934 von der "bürgerlichen" Heimwehr zerstört und die Bücher verbrannt worden.

Elend, Provokationen – und Entschlossenheit

Im Saal des Volksheims stand auf dem Podium ein Rednerpult. Er nahm mit seinen Genossen in der ersten Reihe Platz, ich setzte mich auf eigenen Wunsch in eine der hinteren Reihen. Nach einigen Begrüßungsansprachen wurde mein Vater aufs Podium begleitet. Er begann zu sprechen. Erstaunt sah ich, dass er recht nervös war, er, der bei seinen Auftritten immer Souveränität und Routine ausstrahlte. Seine Stimme war leise und seine Aussprache etwas undeutlich. Er wirkte in meinen Augen etwas verloren da oben auf dem Podium. Seine kleine Gestalt hing in seinem ihm etwas zu groß gewordenen alten Anzug. Der Anzug war mir seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten vertraut, der Stoff war grün-grau-braun kleinkariert und schon seit langem aus der Mode. Mein Vater hatte noch nie Wert auf äußeres Erscheinen gelegt, sehr zum Leidwesen meiner stets elegant gekleideten Mutter.

Er sprach über das Elend der Arbeitslosen in den 1920er- und 1930er-Jahren in Traisen und im Bezirk Lilienfeld, und er berichtete über Provokationen der Heimwehr und des austrofaschistischen Staates, der die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit immer mehr einschränkte und die Sozialdemokraten verfolgte. Deshalb seien er und seine Genossen entschlossen gewesen, gegen die Diktatur zu kämpfen und die Republik, wenn es sein musste, auch mit Waffengewalt zu verteidigen. In Traisen war es – auch dank seiner Umsicht – nicht zum Kampf gekommen, trotzdem wurden alle Schutzbündler und viele Vertrauensleute verhaftet, so auch er. In Rohrbach an der Gölsen war es zu einer Schießerei gekommen, als die Heimwehr die Wohnung des sozialdemokratischen Parteiobmanns Hois stürmte. Dabei erschoss der Schutzbündler Rauchenberger den Heimwehrobmann Lindner in Notwehr. Daraufhin ergaben sie sich kampflos und wurden von der Heimwehr und den Sturmscharen mit Ochsenziemern und Gewehrkolben traktiert und arg zugerichtet. Hois und Rauchenberger wurden vom Standgericht in St. Pölten zum Tod verurteilt und hingerichtet.

"Vergesst uns nicht"

Bis dahin war seine Stimme fest und sachlich geblieben. Dann erzählte er von jener Nacht des 15. Februar im Gefängnis, die er in derselben Zelle wie der zum Tod verurteilte Viktor Rauchenberger verbracht hat. In der mit verhafteten Schutzbündlern überfüllten Zelle hat er sich die ganze Nacht hindurch im Flüsterton mit dem jungen Rauchenberger unterhalten.

Auf dem Podium versagte ihm die Stimme immer mehr den Dienst, und als er die Worte des 22-jährigen Viktor Rauchenberger "Vergesst uns nicht, damit wir nicht umsonst gestorben sind" zitierte, liefen ihm die Tränen über seine zerfurchten Wangen. Er brachte gerade noch die Worte "und wir haben euch nicht vergessen" hervor, bevor ihn der Fluss seiner Tränen endgültig am Weitersprechen hinderte. Rasch geleitete ihn der Bürgermeister vom Podium zu seinem Sitz in der ersten Reihe.

Ich war verwirrt und erschüttert. Natürlich kannte ich die Geschichte von der Hinrichtung Hois' und Rauchenbergers aus dem Buch meines Vaters, "Die Geschichte der Arbeiterbewegung im Traisental", aber dort war sie ein sachlicher Bericht, wie mein Vater in diesem Buch ja auch über sich selbst völlig sachlich und in der dritten Person schrieb. Nie nie hatte er zu Hause über diese Dinge gesprochen.

Ein starker Gefühlsausbruch

Es war sein starker Gefühlsausbruch, der mich überraschte und mir neu war. Plötzlich war mir klar: Aus dem tapferen Februarkämpfer und reformbewegten Bürgermeister war ein alter Mann geworden, den die Rührung übermannte, wenn er an seine ermordeten Kameraden dachte. Er war menschlich geblieben, die Politik hat keinen "Apparatschik" aus ihm gemacht und keinen seelenlosen Machtmenschen. Er liebte die Partei über alles, hatte ihr sein Leben gewidmet, war bereit gewesen, es sogar zu opfern, hatte nach dem 12. Februar wie seine Frau und viele ihrer beider Freunde auch Arbeit und Wohnung verloren, war fast zwei Jahre in Gefängnissen und im Anhaltelager Wöllersdorf eingesperrt gewesen. Ich war emotionell berührt und empfand ganz stark die Bedeutung, die diese Geschichte für die SPÖ hat.

Mein Vater hat nach 1945 unentwegt für die Aufrechterhaltung von Moral und Idealismus in der Partei gekämpft. Als er im Jahr 1959 eine Entschädigung für seinen Verdienstentgang und seine Haftstrafen erhielt, wollte er sie zuerst nicht annehmen, dann spendete er sie zu 100 Prozent der Partei. Es waren 10.000 Schilling, eine damals beachtliche Summe, die meine Eltern gut für den Bau ihres Hauses hätten brauchen können. Aber für ihre Überzeugung Geld zu nehmen kam für sie nicht infrage. Lange Zeit war es ihm gelungen, den Parteifunktionären in seiner Orts- und Bezirksorganisation Ämterkumulierungen zu verbieten. Irgendwann konnte er es nicht mehr verhindern. Wie sein politischer Freund Bruno Kreisky hatte er für Karrierismus, Macht- und Geldstreben von SPÖ-Funktionären nichts übrig. Aber die Partei hat sich nach 1945 von den Idealen, die ihn zeitlebens bewegt hatten, weit entfernt. Vor allem aber hat sie sich von ihrer eigenen Geschichte abgekoppelt. Eine kritische Auseinandersetzung und Analyse der historischen Fakten, der Heldentaten wie der politischen Fehler unterblieb. Der Bürgerkrieg wurde tabuisiert. Sowohl SPÖ als auch ÖVP waren darauf bedacht, die Ereignisse der Zwischenkriegszeit mit dem Mantel des Vergessens zuzudecken.

Der Bürgerkrieg – ein Tabu

Nun waren das Totschweigen des Bürgerkriegs und die Weigerung auf beiden Seiten, die Geschichte objektiv zu analysieren, unmittelbar nach 1945 durchaus verständlich: Beide Parteien gründeten sich neu und waren bemüht, Österreich aus den Ruinen des Krieges und des braunen Faschismus heraus- und in eine neue unabhängige Zukunft zu führen. Die Dreißigerjahre waren noch viel zu nahe und die Wunden noch nicht verheilt.

Dass der Bürgerkrieg auch noch 80 Jahre danach tabu ist, ist weniger verständlich. Noch merkwürdiger ist, dass das Verleugnen der historischen Wahrheit auf beiden Seiten gleich stark ist. Die ÖVP hätte ja aufgrund der Verantwortung ihrer christlichsozialen Vorgängerpartei für die Errichtung der Diktatur, Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten und Ermordung und Einkerkerung politischer Gegner wesentlich mehr Grund dazu als die SPÖ. Schließlich hat die sozialdemokratische Arbeiterschaft Europas nur in Österreich und Spanien dem grassierenden Faschismus der Dreißigerjahre Paroli geboten.

Würdigen, nicht vergessen

Dieser Kampf der mutigen Arbeiter, die ihr Leben für die Verteidigung der Republik aufs Spiel gesetzt haben, sollte gewürdigt und nicht vergessen und verdrängt werden.

Ebenso wenig die sozial-, gesundheits- und bildungspolitischen Glanzleistungen des Roten Wien der Zwischenkriegszeit. Wer von den heutigen Sozialdemokraten hält die Erinnerung an die damaligen Stadträte Breitner, Tandler und Glöckel wach? Die Glöckel'sche Schulreform hat in den Zwanzigerjahren in Wien verwirklicht, was Bildungsexperten heute wieder fordern. Die Christlichsozialen von damals haben diese moderne Reform 1934 rückgängig gemacht, und die ÖVP verhindert sie bis heute. Otto Glöckel wurde 1934 von der christlichsozialen Regierung in Wöllersdorf interniert und ist wenig später als gebrochener Mann gestorben.

Die ÖVP von heute kämpft den gleichen ideologischen Kulturkampf gegen die Gesamtschule und für das Gymnasium wie ihre christlichsoziale Vorgängerpartei und hat damit Erfolg, während sich die SPÖ nicht annähernd mit der gleichen Verve dafür einsetzt. Dabei war die Öffnung aller Bildungseinrichtungen für alle Bevölkerungsschichten für die Generation meiner Eltern ein sozialdemokratisches Hauptanliegen.

Grund für politische Schwäche und Nachgiebigkeit

Die politische Schwäche und Nachgiebigkeit der SPÖ gegenüber der ÖVP wurzelt in ihrem geringeren Geschichtsbewusstsein.

Die ÖVP knüpfte 1945 sowohl personell als auch ideologisch an christlichsoziale Traditionen an: Raab und Figl waren bereits im Ständestaat hoffnungsvolle Jungpolitiker gewesen. Beide hatten im Mai 1930 den Korneuburger Eid geschworen und 1934 die antidemokratische Verfassung der Vaterländischen Front gutgeheißen. Auch pflegt die ÖVP bis heute das Andenken an ihre Vorfahren. Die Austrofaschisten Dollfuß und Schuschnigg, die 1933 den demokratischen Rechtsstaat abgeschafft und anstelle der Republik eine Diktatur errichtet haben, sind die Säulenheiligen auch der heutigen ÖVP. Die ÖVP weigert sich nach wie vor, diese Periode mit dem historisch unumstrittenen Begriff Austrofaschismus zu benennen, und stilisiert stattdessen Dollfuß zum Märtyrer.

Aufseiten der SPÖ hingegen repräsentierten 1945 die pragmatischen Realpolitiker Renner, Körner, Seitz und Helmer die Kontinuität, während viele ehemalige Schutzbündler und Protagonisten des linken Parteiflügels tot oder emigriert waren. Das Geschichtsbewusstsein der Sozialdemokratie hat einen Bruch erlitten. Das schwächt sie gegenüber den "Bürgerlichen".

Hilflose Gesten statt Aufarbeitung der Traumata

Die Sozialdemokratie hält weder die Erinnerung an ihre Helden hoch, noch analysiert sie die gravierenden politischen, militärischen und organisatorischen Fehler der sozialdemokratischen Führung der Zwischenkriegszeit.

Die bisherige "Auseinandersetzung" mit dem Trauma des Bürgerkriegs bestand in mehr oder weniger hilflosen Gesten wie dem "Handschlag über die Gräber hinweg" von Gorbach und Pittermann 1964, der historisch hanebüchenen Floskel von der "geteilten Schuld" 1984, die immer noch herumgeistert, einer gemeinsamen Kranzniederlegung 2014 und einem peinlichen Rehabilitierungsgesetz 2011, das offenkundig von keiner der beiden Parteien wirklich gewollt war.

Mehr als 80 Jahre sind seit den dramatischen Ereignissen des Februar 1934 vergangen. Da durch Verdrängen keine Traumata beseitigt werden, wäre eine Aufarbeitung höchst an der Zeit.

Ich wage zu behaupten, dass erst dann, wenn sowohl ÖVP als auch SPÖ ihre jeweilige Geschichte dieser Zeit aufgearbeitet haben, wirkliche Verständigung und auch Vergebung geschehen kann. Dann würden endlich die – teilweise völlig sinnlosen – Grabenkämpfe der beiden Parteien aufhören, und es wäre ein konstruktives Zusammenwirken bei der Lösung der Herausforderungen, denen sich unser Land gegenübersieht, möglich. (Wilhelmine Goldmann, 15.2.2016)