Hamed Abdel-Samad lebt seit drei Jahren unter Polizeischutz, weil es nach einem Vortrag in Kairo über faschistoide Tendenzen der Muslimbrüder Morddrohungen gegen ihn gab.

Foto: CK Fotografie / Droemer Knaur

Hamed Abdel-Samad lebt nunmehr seit drei Jahren unter Polizeischutz. Nach einem Vortrag in Kairo, bei dem der deutsch-ägyptische Politikwissenschafter im Jahr 2013 über faschistische Tendenzen bei den Muslimbrüdern referiert hatte, wurde in Ägypten eine Fatwa über ihn verhängt. Er müsse getötet werden, weil er den Propheten Mohammed beleidigt habe. Aber auch in Deutschland gab es Mordaufrufe gegen ihn.

Nach seinem letzten Buch, einer Abrechnung mit Mohammed, legte er nun ein weiteres Werk vor: "Der Koran. Botschaft der Liebe. Botschaft des Hasses" (Droemer). Im STANDARD-Interview spricht er über seine kritisch-historische Analyse des Koran und die Teilstücke, die nichts mit der heutigen Welt zu tun haben (dürfen), aber auch über jene spirituellen Passagen, die der Sohn eines sunnitischen Imam als "wunderschön" bezeichnet. Generell warnt Abdel-Samad vor dem demokratiegefährdenden politischen Islam, dem auch in Österreich von der Politik "Unterschlupf" gewährt werde. Sein Plädoyer: "Die Politiker in Europa dürfen nicht naiv sein und im Namen der Toleranz zulassen, dass die Intoleranten ihre Infrastrukturen ausbeuten."

Hamed Abdel-Samad spricht sich klar für ein Kopftuchverbot für minderjährige Mädchen aus. Jede religiöse Indoktrinierung eines Kindes sei ein Verstoß gegen Menschenrechte. Auch Burka und Niqab müssten verboten werden, und vollverschleierte Frauen dürften keine Sozialhilfe erhalten, weil sie sich dadurch 99 Prozent aller Jobs von vornherein verweigern.

STANDARD: Der Koran ist das Buch, auf das sich sowohl moderate Muslime beziehen, die darin Toleranz lesen, als auch die Terrorgruppe IS, die damit ihre mörderische Agenda legitimiert. Wer liest ihn richtig?

Abdel-Samad: Beide, weil der Koran beides beinhaltet, die Botschaft der Liebe und des Friedens und die Botschaft des Hasses und der Gewalt, weil er ein menschengemachtes Buch ist und die Entwicklung der Gemeinde von Mohammed über 23 Jahre lang dokumentiert. Als sie in Mekka noch klein und schwach war, war sie friedlich und predigte Toleranz, weil sie auf diese Toleranz angewiesen war. Später, in Medina, hatte die Gemeinde eine Armee und lebte fast ausschließlich vom Krieg, von Beute, vom Verkauf von Sklaven. Darum kamen zuletzt die Passagen, die Krieg und Gewalt gegen Ungläubige verherrlichen.

STANDARD: Was bedeutet das?

Abdel-Samad: Mohammed reagierte auf die Fragen der Menschen von damals – aber nicht auf unsere von heute. Wir müssen endlich begreifen, dass, wenn der Koran von Ungläubigen spricht, er nicht die Atheisten oder Juden oder Christen von heute meint, sondern kleine Gruppen, die damals in Konkurrenz zu Mohammed standen. Das wäre ein Beitrag zum Frieden. Im Koran spricht nicht Gott für alle Zeiten für alle Menschen, sondern Mohammed spricht kontextbezogen auf Mekka und Medina.

STANDARD: Was ist die Konsequenz aus Ihrer Analyse im neuen Buch "Der Koran. Botschaft der Liebe. Botschaft des Hasses"?

Abdel-Samad: Der Koran besteht aus losen Passagen, ich ordne sie chronologisch und erkläre den Kontext. Der politische Teil, der die Entwicklung, die Kriege und Friedensabkommen der Gemeinschaft um Mohammed beschreibt, hat mit unserem Leben heute nichts zu tun. Der juristische Teil beschreibt die Gebote und Verbote, vom Alkoholverbot bis zu Körperstrafen. Auch dieser Teil des Koran kann aus heutiger Sicht keine Allgemeingültigkeit besitzen.

STANDARD: Gibt es irgendetwas im Koran, das anschlussfähig ist?

Abdel-Samad: Den Teil mit allgemeinen Prinzipien – Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Solidarität mit den Armen, Bewahrung der Schöpfung, Verlangen nach Wissen, Gleichheit aller Menschen – kann man gerne in der Erziehung forcieren, auch wenn es keine genuin islamischen Prinzipien sind. Die spirituellen Stellen kann man auch bewahren. Als junger, sensibler Dichter schrieb Mohammed wunderschöne Passagen, die die Ursehnsucht des Menschen nach Wärme, Vollkommenheit und Wahrheit beschreiben. Kein Mensch kann das einem gläubigen Menschen wegnehmen, aber man darf den Koran nicht als politisch-juristischen Ratgeber lesen.

STANDARD: Viele in unseren säkularen Gesellschaften sehr umstrittene Dinge wie Kopftuch und Schwimmverbot für muslimische Mädchen oder Burka und Niqab in der Öffentlichkeit werden von deren Verfechtern jedoch sehr wohl unter Verweis auf den Koran legitimiert. Wie soll der demokratische Rechtsstaat, der ja auch Religionsfreiheit garantiert, damit umgehen?

Abdel-Samad: Das Verschleierungsgebot hatte historisch bedingte Gründe. Mohammed lebte in Medina in einer sehr feindseligen Umgebung, deshalb sollten sich seine Frauen und die der Gläubigen verschleiern, damit sie auf der Straße nicht auffallen. Heute, vor allem in Europa, fällt eine Muslimin erst richtig auf, wenn sie ein Kopftuch oder einen Schleier trägt. Das heißt, die religiöse Funktion ist längst passé, und das Gegenteil wird erzielt.

STANDARD: Unter Religionsfreiheit fällt die Verschleierung also nicht?

Abdel-Samad: Nein, Religionsfreiheit setzt Freiheit voraus – auch des Mädchens, das jetzt mit sieben oder neun Jahren mit Kopftuch in die Schule kommt. Wer schützt sie vor diesem religiösen Korsett? Das Wichtigste ist für mich die Freiheit des Menschen, seine Persönlichkeit frei zu entfalten, jenseits von politischer Unterdrückung oder familiärer und religiöser Bevormundung. Man kann im Namen der Religion nicht alles machen. Im Koran ist Sklaverei oder Vergewaltigung von Frauen, die man im Krieg erbeutet, erlaubt. Wer das heute tut, begeht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es muss eine Priorität geben: Zuerst die Verfassung, das Grundgesetz, und dann kann man im Rahmen der Verfassung die Religion ausüben. Man kann beten, fasten, nach Mekka gehen, aber nicht alles, was sonst im Koran steht, darf automatisch umgesetzt werden, nur weil es im Koran steht.

STANDARD: Sind Sie für ein altersdefiniertes Kopftuchverbot?

Abdel-Samad: Absolut, ich bin für ein Kopftuchverbot, bis die Mädchen erwachsen sind, auf jeden Fall in der Schule. Jede religiöse Indoktrinierung von Kindern ist ein Verstoß gegen Menschen- und Kinderrechte. Das Kopftuch ist eine Bevormundung und frühe Sexualisierung des Kindes. Warum soll man davon ausgehen, dass ein Mann Lust auf ein achtjähriges Mädchen hat? Natürlich, wenn der Prophet eine Frau mit sechs Jahren geheiratet hat, kann man sagen, die ist ja heiratsreif. Kopftuch als öffentlich Bedienstete ist auch höchst problematisch, weil die Islamisten das Kopftuch seit Jahren als Propagandamittel nutzen. Das Akzeptieren solcher Symbole ist eine indirekte Unterstützung der islamistischen Propaganda. Darum sollten Staatsbedienstete weder Kreuz noch Kopftuch noch irgendwelche anderen religiösen Symbole tragen.

STANDARD: Burka- und Niqab-Verbot?

Abdel-Samad: Ja. In erster Linie aus Sicherheitsgründen, weil sich viele IS-Kämpfer als Burkaträgerinnen verkleidet haben. Am Ende werden wir feststellen, dass wir in Deutschland 200 bis 300 Burkaträgerinnen haben, in Österreich weniger, aber es geht um das Prinzip: Eine Frau, die das Gesicht verdeckt, sagt uns, ich bin euch moralisch überlegen und will mit euch nichts zu tun haben. Ich will nicht mit euch kommunizieren. Vollverschleierte Frauen dürfen keine Sozialhilfe erhalten, weil sie sich durch die Burka oder den Niqab 99 Prozent aller Berufschancen vergeben. Sie bemühen sich nicht, einen Job zu bekommen.

STANDARD: Der ehemalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff hat den Satz geprägt: "Der Islam gehört zu Deutschland." Gehen Islam und Demokratie zusammen?

Abdel-Samad: Nein, natürlich nicht. Seit 9/11 sind wir hilflos und versuchen mit irgendwelchen Parolen die Lage zu beruhigen. Aber der Islamismus ist weltweit auf dem Vormarsch. Wir hatten in Deutschland vor wenigen Jahren 300 Gefährder oder gewaltbereite Islamisten, heute sind es 6000 und 40.000 Unterstützer. Das zeigt, dass solche Parolen nicht helfen, man muss die Probleme ehrlich benennen und darf das Gewaltpotenzial des Islam nicht unter den Teppich kehren.

STANDARD: In einem "Zeit"-Interview sagten Sie: "Der Islamismus ist der Faschismus des 21. Jahrhunderts." Was bedeutet das für die Politik?

Abdel-Samad: Die Politiker müssen lernen, dem politischen Islam keinen Unterschlupf zu bieten. Das geschieht auch in Österreich, wo die Muslimbrüder arbeiten. Sie waren daran beteiligt, dass junge Österreicher nach Syrien gehen. Im 20. Bezirk wurden Spenden für die Jihadisten gesammelt und dafür geworben. Auch der Salafismus wächst in Europa krebsgeschwürartig. Im Namen der Toleranz wurde das alles akzeptiert. Viele muslimische Organisationen geben sich demokratisch und staatstragend, solange sie in der Minderheit sind. Aber wenn sie an die Macht kommen, dann zeigen sie ihre hässliche Fratze und ihr totalitäres Gedankengut. Die Politiker in Europa dürfen nicht naiv sein und im Namen der Toleranz zulassen, dass die Intoleranten ihre Infrastrukturen ausbeuten.

STANDARD: Was sagen Sie den Muslimen, die einfach ihr Leben und ihre Alltagsreligiosität leben wollen und sich nicht immer für islamistische Attentäter rechtfertigen wollen oder die sich durch Ihre Islamkritik oft "beleidigt" fühlen?

Abdel-Samad: Niemand darf friedliche Muslime für die Untaten gewalttätiger Muslime verantwortlich machen. Aber ich nehme sie auch in die Verantwortung. Wenn sie in Massen auf die Straße gehen, wenn ein Karikaturist aus Dänemark den Propheten mit einer virtuellen Bombe im Turban zeichnet, aber kein einziges Mal gegen den IS, der mit echten Bomben tötet, demonstrieren, dann ist es eine Heuchelei. Das muss auch von moderaten Muslimen mehr geächtet werden. Indem sie jede islamkritische Debatte unterdrücken und uns Kritiker immer mit ihren emotionalen und religiösen Gefühlen erpressen wollen, unterstützen sie die Fundamentalisten, die im Namen des Koran töten.

STANDARD: Für Ihre islamkritischen Aussagen werden Sie nicht nur von Islamisten verfolgt, Sie bekommen auch Applaus vom rechten Rand, den Ihre Kritiker so interpretieren, dass Sie den Rechten Stoff für islamfeindliche Vorurteile liefern würden. Was entgegnen Sie?

Abdel-Samad: Es gibt Kritikpunkte, die auch von den Rechten zu Recht kritisiert werden. Der Unterschied ist die Art, wie man das macht. Der Ausgang meiner Islamkritik ist der Humanismus und die Freiheit. Ich pauschalisiere nicht gegen alle Muslime, sondern thematisiere die Theologie der Gewalt im Koran. Wer einen ehrlichen Blick auf die Welt wirft, stellt fest, dass alle islamischen Länder von dieser Seuche befallen sind – auch alle europäischen Staaten, wo Muslime leben. Wir haben ein ernsthaftes Problem. Wir haben eine richtige Gewaltseuche im Herzen des Islam. Die Lösung kann nie sein, dass wir unsere humanistische, vernünftige Islamkritik verstummen lassen, damit die Islamisten nicht sauer werden oder das rechtsradikale Lager nicht wächst. Wir müssen diese Debatte in die Mitte der Gesellschaft holen und dort demokratisch und ehrlich zu Ende führen. Dann nehmen wir dem rechten Lager den Wind aus den Segeln, die sonst die Debatte über Meinungsfreiheit vereinnahmen, als wären sie die Verteidiger der Freiheit, was nicht stimmt. (Lisa Nimmervoll, 25.10.2016)