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Kampagne gegen Magermodels von Starfotograf Oliviero Toscani 2007.

Foto: Reuters/Flash&Partners

1,65 groß und 32 Kilo leicht, bis auf die Knochen abgemagert, die Hautschäden, verursacht durch das Hungern, deutlich sichtbar - so legte sich das Model Isabelle Caro nackt vor Oliviero Toscanis Kamera. Der Fotograf, bekannt durch seine umstrittenen Plakatserien für Benetton, wollte 2007 kurz vor der Mailändermodewoche mit den schockierenden Plakaten vor den Folgen der Anorexie (Magersucht) warnen. Toscani bekam seinen Skandal, das Label Nolita die erwünschte Werbung und die schwerkranke Frau jene Aufmerksamkeit, die ihr, so schrieb sie später in ihrer Biografie, als Kind und Jugendliche verwehrt geblieben war.

"Ich habe ausgesehen wie eine Leiche", sagt das Ex-Model in Interviews, hält Vorträge über Anorexie und bloggt. Äußerlich scheint sie sich aber kaum verändert zu haben. Caro zelebriere ihre Krankheit, ohne Anorexie sei sie nichts, wirft ihr Toscani vor. Selbsthilfegruppen beurteilen Caros Auftritte nicht als Aufklärungsarbeit. Sie vermissen klare Bekenntnisse zu Therapien und sichtbare Therapieerfolge.

Es gehöre zum Krankheitsbildder Anorexia Nervosa, dass sich Betroffene ihre Krankheit nicht eingestehen wollen, sagt Sabine Schmid-Sipka. Die Psychologin leitet "sowhat", Österreichs größtes ambulantes Beratungs- und Therapiezentrum mit Standorten in Wien, Mödling und St. Pölten. Das Eingeständnis sei deshalb so schwierig, "weil die betroffenen Frauen den Anspruch haben, alles perfekt zu machen. Hilfe holen würde dem widersprechen."

Nichtessen als Sucht

Dazu kommt der hohe Suchtcharakter. "Der ist so stark, dass man mit dem Hungern nicht mehr aufhören kann. Auch wenn der Körper immer schwächer wird."

Die physischen Folgen der Magersucht sind fatal: Das extreme Untergewicht führt zu niedrigem Blutdruck, Herzrhythmusstörungen, im schlimmsten Fall zu plötzlichem Herztod. Der Elektro- lyt-Haushalt wird gestört, es kommt zu Unterzuckerung, Blutarmut. Hormonelle Störungen haben Ausbleiben der Menstruation und Unfruchtbarkeit zur Folge. Der Magen schrumpft durch das ständige Hungern, Darmträgheit, Blasenschwäche, Nierenversagen treten auf. Osteoporose ist eine der Spätfolgen.

Die meisten Magersüchtigen leiden an einer Körperschemastörung: Sie nehmen sich als zu dick wahr, wollen deshalb ständig abnehmen. Forscher der Ruhr-Universität Bochum führen das verzerrte Körperbild auf Veränderungen in jenen Bereichen des Gehirns zurück, die für die Verarbeitung von Körperbildern zuständig sind, wie sie im Journal Behavioural Brain Research berichten. In zwei Regionen, der Extrastriate Body Area (EBA) und im oberen hinteren Teil der Schläfenlappen, wurde bei anorektischen Frauen geringere Dichte der grauen Substanz festgestellt. Ob Veranlagung oder Folge der Krankheit, muss noch erforscht werden.

Isabelle Caro will Mädchen und Frauen zwingen, ihren geschundenen Körper anzusehen, sagt sie. Sie wirkt aber nicht nur abschreckend. "Pro Ana", die bizarre, vor allem im Internet aktive Bewegung, die Anorexie (Kosename Ana) verherrlicht, hat Caro zur Ikone erhoben. Ana-Frauen sehen Magersucht nicht als Krankheit, sondern als Lebensstil. "Stay strong" lautet die Devise. In gestylten Blogs werden Fotos von Magermodels veröffentlicht. Diese "Thinspiration" soll zur Nachahmung motivieren. Kasteiung ist das Lebensziel. "Ich war erst glücklich, wenn ich das Gefühl hatte, über meine Bedürfnisse gesiegt zu haben", schilderte eine Patientin Sabine Schmid-Sipka ihre Gefühle. "Du brauchst keine Hilfe, bist selbst stark", suggerieren die Website-Betreiberinnen. Der Einfluss von Ana sei stark, sagt Schmid-Sipka, "das ist fast sektenähnlich." Der Grund: Die betroffenen Frauen fühlen sich bestätigt, man findet Gleichgesinnte, eine "Familie".

Projekte in Schulen

Im Herbst startete "sowhat" das Schulprojekt PEC (Peer-Ernährungs-Coaches). 14- und 15-Jährige werden in der Selbstwahrnehmung ihres eigenen Ernährungsverhaltens geschult und erhalten Basiswissen zu Ernährung. So wird in den Klassen Bewusstsein für Ernährung, den eigenen Körper geschaffen. Schmid-Sipka: "Die ersten Coaches wurden bereits ausgebildet, die Nachfrage ist groß."

Aufklärung über Essstörungen sollte so früh wie möglich beginnen, sagt die Psychotherapeutin. "Denn man weiß ja aus Untersuchungen in Deutschland, dass schon Volksschulkinder Diäten machen." Die erste Diät kann bereits der Auslöser für eine Essstörung sein. Schmid-Sipka: "Eine in der Klasse macht eine Diät, dann ergibt das einen Schneeballeffekt." Ein weiterer Auslöser: "Irgendjemand sagt zu einem heranwachsenden Mädchen: ,Du bist aber kugelig geworden.'" Im Umgang mit Pubertierenden müssten sich Erwachsene der Bedeutung von solchen Bemerkungen stärker bewusst werden, fordert die Therapeutin.

15 Prozent sterben an ihrer Magersucht. Bei früher Behandlung sind die Heilungschancen aber gut. Alarmsignale sind sozialer Rückzug, Ausreden, wenn es um gemeinsames Essen geht, Gewichtsabnahme. Man sollte sich nicht scheuen, Betroffene auf Veränderungen anzusprechen, rät Schmid-Sipka: "Aber immer mit einer Ich-Botschaft - nie mit der Aufforderung, doch endlich was zu essen." (Jutta Berger, DER STANDARD Printausgabe, 15.2.2010)