Bernhard Wappis (34) ist systemischer Coach und ausgebildeter Klinischer- und Gesundheitspsychologe.  Er ist Gründungsmitglied des Vereins "Mann-Sein" - Verein zur Förderung von Männergesundheitsprojekten und Leiter der Selbsthilfegruppe für Männer mit Essstörungen "sowhat". 2005 hat Wappis den autobiographischenErfahrungsbericht und Ratgeber: "Darüber spricht man(n) nicht! Magersucht und Bulimie bei Männern" veröffentlicht.

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Der Ex-Formel-1-Pilot David Coulthard outete sich 2007 in seiner Autobiografie "It is what it is" als Bulimie-Betroffener.

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derStandard.at: Sind Essstörungen typische Frauenkrankheiten?

Wappis: Das würde ich nicht sagen. Schätzungen zufolge gibt es in Österreich 200.000 Menschen, die unter Anorexie oder Bulimie leiden. 20.000 davon sind Männer. Für Mann ist es natürlich schwierig, dass diese Krankheit ausschließlich in die Frauenecke positioniert wird, denn Männer gehen generell nicht gerne zum Arzt und unter dieser Vorraussetzung natürlich noch weniger.

derStandard.at: Das Phänomen männliche Essstörung wurde Ende der 90-er Jahre bei Skispringern erstmalig bekannt. Sind eher sportliche Männer davon betroffen?

Wappis: Sportler sind definitiv eher betroffen, vor allem in Leistungssportarten, wo Gewichtsklassen vorherrschen. Skispringen ist ein gutes Beispiel, denn natürlich springt es sich weiter, wenn man leichter ist. 2004 hat der Internationale Skiverband (FIS) deshalb einen BMI von 18,5 zum verbindlichen Richtwert für Skispringer gemacht. Bei anderen Sportarten erhöht ein niedriges Gewicht aber ebenfalls die Leistungsfähigkeit. Das betrifft unter anderem Triathleten, Radfahrer oder Kletterer.

derStandard.at: Das heißt der Leistungssportler ist per se gefährdet eine Essstörung zu entwickeln?

Wappis: Nein. Voraussetzung ist immer eine gewisse Grundpersönlichkeit. Es ist unwahrscheinlich, dass Menschen, die mit viel Anerkennung aufwachsen und aufgrund dessen ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl besitzen, eine Essstörung entwickeln. Mit einer perfektionistischen zwanghaften Persönlichkeit ist man viel eher gefährdet. Entscheidend ist aber, dass der Einstieg in die Erkrankung häufig über exzessive Bewegung erfolgt und Männer mit Anorexie oder Bulimie ihr Gewicht häufig versuchen mit Sport zu kontrollieren. Das primäre Ziel ist dabei immer ein durchtrainierter Körper und ein geringer Anteil von Körperfett. Stimmt die Persönlichkeitsstruktur, dann erkennt der Triathlet irgendwann, dass er mit ein paar Kilo weniger ein paar Sekunden dazu gewinnt. Die Folge ist: Er beginnt seine Ernährung umzustellen und kippt so in die Essstörung hinein.

derStandard.at: Frauen mit Essstörungen sind weniger aktiv?

Wappis: Der Sport spielt bei essgestörten Frauen eine geringere Rolle. Frauen bringen Schönsein weniger mit gut definierten Muskeln, als mit Schlanksein in Verbindung. Sie eifern völlig unrealistischen Modeltypen nach und greifen um Gewicht zu verlieren auch wesentlich häufiger zu Abführmitteln als Männer.

derStandard.at: Aber eifern nicht auch Männer immer mehr Schönheitsidealen nach?

Wappis: Ja natürlich macht sich auch der Mann von heute wesentlich mehr Gedanken über seine Schönheit. Das ist auch der Grund, warum zunehmend mehr heterosexuelle Männer von Essstörungen betroffen sind. Vor einigen Jahren noch war das anders. Da war der Schönheitsdruck vor allem in der Homosexuellen-Community sehr verbreitet. Deshalb waren auch mehr homosexuelle Männer von dem Phänomen Anorexie und Bulimie betroffen, als heterosexuelle.

derStandard.at: Ein Diagnosekriterium für die weibliche Essstörung ist die ausbleibende Regelblutung? Gibt es ein Pendant dazu beim Mann?

Wappis: Das ist genau das Problem, warum klinische Diagnostiker die männliche Essstörung häufig noch immer nicht erkennen. Andere Kriterien für Essstörungen, wie niedriges Körpergewicht, ausgeprägte Gewichtsphobie und Körperschemastörungen sind zwar bekannt, beim Mann sind Ärzte darauf aber noch zu wenig sensiblisiert. Es braucht da prominente Beispiele, um genauer hinzuschauen. Das mediale Interesse an der Bulimie des Exrennfahrers David Coulthard war beispielsweise sehr groß und hat natürlich auch in der Bevölkerung die Sinne für männliche Essstörungen geschärft.

derStandard.at: Das heißt die Symptome und körperlichen Konsequenzen einer Essstörung sind bei Mann und Frau im Wesentlichen gleich?

Wappis: Bei Männern lässt das sexuelle Interesse stärker nach und der soziale Rückzug ist besonders ausgeprägt. Interessant ist auch, dass Männer vor der Entwicklung einer Essstörung häufig übergewichtig bis adipös waren. Bei Frauen ist das seltener der Fall.

derStandard.at: Warum ist die Mortalitätsrate unter männlichen Essgestörten höher?

Wappis: Weil das Rollenbild des Mannes den Gang zum Arzt erschwert. Ein Indianer kennt ja bekanntlich keinen Schmerz und Mann lässt sich generell nicht gerne helfen. Viele männliche Essgestörte suchen deshalb erst mit schwersten Anorexien nach einer langen Erkrankungskarriere Beratungsstellen beziehungsweise Krankenhäuser auf. Man kennt das auch von anderen Krankheiten: Je länger der Verlauf, desto schwieriger ist die Heilungsrate. Die Magersucht wird auch als Suizid auf Raten bezeichnet und das betrifft natürlich nicht nur die Männer. Diese psychiatrische Erkrankung besitzt die größte Mortalitätsrate.

derStandard.at: Wie wird dem anorektischen Mann geholfen?

Wappis: Im Wesentlichen unterscheiden sich die Therapiekonzepte für Männer und Frauen nicht. Es wäre jedoch dringend an der Zeit homogene Männergruppen zu schaffen. Im Moment ist es so, dass 9 von 10 Betroffenen in einer Behandlungsgruppe Frauen sind. Männer fühlen sich hier mit ihren eigenen Themen natürlich alleine. Ich habe vor drei Jahren eine Selbsthilfegruppe für Männer mit Essstörungen gegründet. Andere spezifische Männerangebote, wie eigene Wohngemeinschaften, wären aber wünschenswert. Und vor allem muss Mann erkennen, dass es keine Schwäche ist sich Hilfe zu organisieren, sondern ein erster und wichtiger Schritt um Probleme zu lösen. (derStandard.at, 31.03.2010)