"Wo nicht einem jeden jedes Geheimnis mit Gewalt entrissen wird, weil nur so die Welt sauber sein kann" : Christa Wolf bei der Präsentation ihresneuen Romans in der Berliner Akademie der Künste.

Foto: Berthold Stadler

In den Kalifornien-Impressionen von 1993 beschreibt Christa Wolf einen Traum, der Berlin nach Los Angeles holt: "Kerzen brennen, die viele Menschen in den Händen tragen, sie rufen rhythmisch: Kei-ne Ge-walt! Es ist der erfüllte Augenblick, ich weiß es sogar im Traum." Und dann gibt es auch noch die Szene, in der vier Frauen auf dem Highway "We shall overcome" singen. Und so setzen sich 16 Jahre später bei der Niederschrift ihres Romans Stadt der Engel die Träumereien von Christa Wolf fort.

Und gesungen wird da vor allem von der Ich-Erzählerin, die zwar durchgängig die autobiografische Kennung der Autorin trägt, aber auf keinen Fall mit ihr verwechselt werden darf. Von Schuberts Winterreise ("Fremd bin ich eingezogen" ) bis zu den reitenden blauen Dragonern reicht das nächtliche Liedgut - und doch haben wir es nicht mit einem heiteren Rückblick zu tun, sondern mit einem literarisch fein gewobenen Erinnerungsbuch, das die Erfahrungen der nunmehr 81-jährigen Dichterin in all ihren vielen Schattierungen reflektiert. Die Haupterzählung widmet sich ihrem Aufenthalt 1992/93 in den USA, als sich die prominente Autorin aus der inzwischen untergegangenen DDR als Stipendiatin am Getty Center in Los Angeles aufhielt und dort via Faxe mit Zeitungsartikeln über den Inhalt ihrer damals von der Gauckbehörde an die Medien weitergereichten Stasi-Akte informiert wurde.

Zu diesem Zeitpunkt geriet Christa Wolf in den "Fleischwolf" des westdeutschen Feuilletonbetriebs. Die als "IM Margarete" geführte Autorin hatte zwischen 1959 und 1962 mehrere Berichte für die Stasi verfasst, was ihr jetzt berechtigte Kritik, aber auch schmähenden Nachruf zu Lebzeiten einbrachte. Sie wurde als larmoyante Mater dolorosa vorgeführt, die aufrecht und gläubig den Kanon des Sozialismus verteidigte, und gerade ihre im erzählerischen Werk so viel bewunderte eher sanfte, deskriptive Vorgehensweise wurde nun mit beträchtlicher Häme bedacht. Doch Christa Wolf, die auch heute bekennt, dieses "kleine Land" , die DDR, geliebt zu haben, hat sich als Motto für ihren Roman einen Satz aus Walter Benjamins Essay Ausgraben und Erinnern gewählt: "So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde."

Die Ich-Erzählerin schreibt all dies in unserer heutigen Gegenwart vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise und der Erfahrung mit der Zäsur von 9/11. Zugleich greift sie zurück bis auf ihre Jugend unter dem Nationalsozialismus, erinnert sich an die Flucht aus ihrem Heimatort, an ihr Studium und an die Frühzeit der DDR, wo sie später zu einer Institution wurde, ohne freilich - anders als die von ihr bewunderte Anna Seghers - jemals zur Staatsdichterin zu werden.

Diktatur des Proletariats

Allerdings wird im Roman nicht deutlich, wie sie heute zu dem SED-Staat steht, auch wenn sie entschuldigend bemerkt, "dass wir in einer Diktatur lebten, der Diktatur des Proletariats. Eine Übergangszeit, eine Inkubationszeit für den neuen Menschen, versteht ihr?" . Ihrer Erzählweise, die immer mit zwei Perspektiven operiert, bleibt sie treu: Sie untersucht das Gestern und vergleicht es mit der Gegenwart. So berichtet ihr erzählendes Ich vom letzten Besuch in Moskau vor 1989. Auf dem Flughafen begegnet sie einem Madrigalchor aus Leipzig, der nach wochenlanger Tournee durch Russland wieder nach Hause zurückfliegt, von ihr aber wissen will, was in Leipzig passiert ist, wie es um die Demonstrationen steht. "Es waren hunderttausende auf der Straße, und nichts ist passiert." Worauf der Chor das Eichendorff-Lied O Täler weit, o Höhn anstimmt, die Erzählerin ihrem Du aber anvertraut: "Du als Einzige von allen Zuhörern verstandest, warum sie sangen, und du musstest dich wegdrehen und hättest dein wehes und bewegtes Gefühl nicht benennen können."

Christa Wolf sucht auch in diesem Buch immer wieder die größtmögliche Nähe zu ihren Figuren. Aber ihr fiktionales autobiografisches Erzählen verläuft sich doch allzu oft in einer peniblen, nahezu dokumentarischen Recherche. In Los Angeles, der "Stadt der Engel" , sammelt sie, was ihr an historischem Stoff über die Geschichte der Emigration begegnet. Während der Dreißigerjahre wurde Santa Monica zu einem Schmelztiegel des Exils.

Immer wieder liest sie in den Tagebüchern von Thomas Mann, spürt dem Agieren von Brecht, Schönberg, Feuchtwanger und Einstein nach - und konstatiert bei sich selbst die anhaltende "Fassungslosigkeit über Deutschland" . Beim Besuch der vielen Dinnerpartys trifft sie auf die Enkelgeneration, etwa auf junge jüdische Paare, die sie nach den Verhältnissen in Deutschland befragen, vor allem aber von ihr wissen wollen, was das für ein Regime war, unter dem sie in der DDR gelebt hat.

Das fiktionale Erzähler-Ich der Christa Wolf macht es sich nicht leicht mit der Beantwortung solcher Fragen. Überhaupt trägt die Autorin schwer an ihrer Vergangenheit als Bürgerin der DDR, die diesen Staat bejaht hat, ihn nicht als Unrechtssystem ansieht und ihm innerlich in der ihr eigenen skrupulösen Haltung die Treue hält. Ihr berühmtes Buch Kein Ort. Nirgends hat ihr damaliges Lebensgefühl kenntlich gemacht. Das wird auch jetzt im neuen "Roman" erinnert.

Whiskey und Margaritas

Sie hat den Glauben an die Reformierbarkeit des Systems keineswegs verloren, auch wenn sie unter den Bedingungen dieses paranoiden Verfolgungsstaates leiden musste, was sich in den 42 Bänden ihrer Opferakten nachlesen lässt. An ihrer moralischen Integrität hätte nicht gezweifelt werden dürfen, wohl aber an ihrer politischen Einsichtsfähigkeit. Im Buch fragt sich das Erzähler-Ich, warum es sich mit "denen" überhaupt eingelassen habe - und gibt sich auch gleich die Antwort: "Weil ich sie noch nicht als ,die‘ gesehen habe, glaube ich." Es ist aber dieses hin und her schwankende Abwägen des Urteils, das es mitunter schwermacht, diese Meisterin der Abstandsverringerung und spürbaren Nähe in ihrem Kokon deutlich auszumachen. Im Buch hat sie auch vieles erfunden, was der Vielschichtigkeit des Erzählten zugutekommt, mitunter aber belastend wirkt.

Dass die Ich-Erzählerin 1992 noch mit ihrem alten DDR-Pass in die Staaten reist und bei der Ankunft gefragt wird, ob sie sicher sei, dass es dieses East-Germany überhaupt noch gebe, ist ein hübsches Aperçu - aber auch nicht mehr. Schwieriger wird es mit dem Schutzengel "Angelina" (benannt nach ihrer schwarzen Raumpflegerin), bei dem sich die Erzählerin nach dem ausgiebigen Genuss ihres Lieblingscocktails Margarita (auch dem Whiskey wird zugesprochen) öfters Rat holt.

Dabei fehlt es nicht an therapeutischem Zuspruch - etwa bei den häufigen Begegnungen mit einem jüdischen Autor namens Peter Gutman, der über Walter Benjamin arbeitet. Oder bei dem japanischen Psychiater, der ihre Gelenkschmerzen mit Akupunktur lindert. Und da gibt es eben noch die Korrespondenz einer alten Kommunistin mit einer verblichenen Freundin, die den Anlass für ihren Studienaufenthalt in Kalifornien darstellt.

Ob sich das alles so zugetragen hat, wie sie es schildert, ist aber nicht entscheidend. Christa Wolf, die sich immer gegen den Stempel einer doppelbödigen Moralistin gewehrt hat, hat ihren sozialistischen Überwurf nicht abgelegt. Denn auch The Overcoat of Dr.Freud, wie der Untertitel ihres Buchs heißt, gibt es zwar nicht, wird aber von Christa Wolf immer dann als Schutzmantel des Erzähler-Ichs eingesetzt, wenn sich die Erinnerung zwischen preußisch-protestantischer Innerlichkeit und säkularisierter Moral zu verirren droht. Sie rettet sich dann flugs in das Gedankenmuster der Autorin: "Ich möchte sein, wo es noch Geheimnisse gibt. Wo nicht einem jeden jedes Geheimnis mit Gewalt entrissen wird, weil nur so die Welt sauber sein kann." (Wolf Scheller, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 26./27.06.2010)