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Ein polizeilich gesuchter, kämpferischer Bruno Kreisky: Erstes Emigrationsziel Bolivien.

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Als ich im April 1982 Américo Ghioldi in dessen bis unter die Decke mit Büchern vollgestellter Wohnung in Buenos Aires gegenübersaß, begann der steinalte Kopf der unter der damaligen Diktatur verbotenen demokratischen Sozialisten Argentiniens plötzlich über den österreichischen Bundeskanzler zu schwärmen. Bruno Kreisky habe gewaltige Vorarbeiten geleistet, um bei einem globalen Nord-Süd-Gipfel im mexikanischen Cancún einen Prozess in Gang zu setzen, mit dem den reichen Staaten des Nordens die Zustimmung zu einer für die Staaten Lateinamerikas, für die Länder des Südens überhaupt, gerechtere Weltwirtschaftsordnung abgetrotzt werden sollte.

Tatsächlich hatte Kreisky den Cancún-Gipfel gemeinsam mit dem mexikanischen Präsidenten José Lopez Portillo vorbereitet. Er basierte auf seiner eigenen, Jahre davor formulierten Idee eines "Marshallplans für die Dritte Welt" und auf der Arbeit der vom SPD-Chef Willy Brandt geleiteten Nord-Süd-Kommission, die beispielsweise eine stärkere Beteiligung der Dritten Welt an Weltbank und Währungsfonds gefordert hatte. Die Konferenz fand, unter Teilnahme von Großmacht-Politikern wie Reagan, Thatcher und Mitterrand im Oktober 1981 tatsächlich statt, blieb aber ohne nachhaltiges Ergebnis. Kreisky, damals 70 Jahre alt und bereits schwer krank, konnte nicht nach Mexiko fahren und auch Brandt lehnte ohne die Unterstützung seines wortgewaltigen Freundes eine Teilnahme ab.

Die Episode war nicht ganz untypisch für Bruno Kreiskys Verhältnis zu Lateinamerika: Phasen, in denen er mutig seine Solidarität mit den damals vom übermächtigen Norden, von den USA abhängigen, oft unter diktatorischen Herrschern leidenden Völkern bekundete, wechselten mit durchaus kritikwürdigen Vorgängen ab.

So erinnern sich hunderte politische Flüchtlinge aus Chile und Argentinien dankbar daran, dass sie auf Initiative Kreiskys in Österreich Asyl fanden, als in den 1970er-Jahren in ihren Ländern die Militärs putschten und alle Gegner grausam verfolgten. Sie haben auch nicht vergessen, dass Kreisky sogar den österreichischen Botschafter in Santiago de Chile abberief, weil ihnen dieser in Gebäuden, die zur diplomatischen Vertretung gehörten, keine sichere Zuflucht bot.

Ich habe in den 1980er-Jahren in Santiago selbst gesehen, wie junge Chilenen auf ihren von Prügelpolizisten und Wasserwerfern attackierten Demonstrationsmärschen Bilder des Volksfrontpräsidenten Salvador Allende und Wimpel der IUSY vor sich hertrugen, der Jugendorganisation der damals von Brandt, Kreisky und Olof Palme geführten Sozialdemokratischen Internationale (SI).

Peter Kreisky, der kürzlich verstorbene Sohn des Altkanzlers, hat in einem wenige Wochen vor seinem Tod dem Jungsozialistenmagazin "Trotzdem" gewährten Interview daran erinnert, dass die Chile-Solidarität für seinen Vater keine Selbstverständlichkeit war. "Er hat zuerst wegen der Zusammenarbeit der Sozialisten mit der sehr Moskau-orientierten chilenischen KP leider mit dem Satz 'Wer sich mit Hunden ins Bett legt, darf sich nicht wundern, wenn er mit Flöhen aufwacht' reagiert," berichtete Peter Kreisky, der ihm dies mit anderen "sehr vorgeworfen" hat. Der Alte, so sah es Peter, habe das dann "aber durch große Solidarität mit den Sandinisten in Nicaragua und eine sehr aktiven Flüchtlingspolitik für Chile und Südamerika in gewisser Weise wieder gutgemacht".

Ähnlich zwiespältig war die Erfahrung, die der Poet und Untergrundkämpfer Juan Gelman aus Argentinien machte, nachdem 1976 dort die Militärs ihre blutige Junta errichteten. "Ich bat die europäischen Sozialdemokraten um Hilfe und erreichte schließlich, dass Olof Palme, François Mitterrand und Willi Brandt gegen die Menschenrechtsverletzungen protestierten. Nur Bruno Kreisky wollte nicht unterschreiben", berichtete Gelman der Lateinamerikajournalistin Gaby Weber. Als Grund habe Kreisky die mit Buenos Aires bestehenden diplomatischen Beziehungen angegeben.

Zitat Gelman aus dem Weber-Artikel: "Darauf riet ich ihm, nicht als Bundeskanzler, sondern als österreichischer Sozialdemokrat zu unterzeichnen. Er lachte: Das könne man doch nicht trennen. Wir stritten uns noch eine Weile, und irgendwann fuhr es aus mir heraus. 'Kreisky', schrie ich ihn an, 'erinnern Sie sich an Léon Blum' (den ersten sozialistischen Ministerpräsidenten Frankreichs, der 1938 abdanken musste und vom Vichy-Regime vor Gericht gestellt wurde). Er antwortete nicht. Ich griff nach meinem Regenmantel und ging wortlos. Während ich auf den Aufzug wartete, hörte ich meinen Namen. Da stand Kreisky, mit einem Füllfederhalter in der Hand. Er unterschrieb. Wortlos. Diese öffentlichen Proteste der Sozialdemokraten waren auf internationalem Parkett der erste harte Schlag gegen die Generäle. Im Gegensatz zu Pinochet brach die argentinische Diktatur nie die Beziehungen zur Sowjetunion oder zu Kuba ab."

Ein paar Jahre später sah es schon wieder anders aus: Weil er die Beschäftigung der Arbeitskräfte in der österreichischen Schwerindustrie sichern wollte, hatte Kreisky dem Ausbau der Rüstungsproduktion zugestimmt und äußerte zunächst auch keine Einwände, als 1980 mehr als hundert Steyr-Panzer an Pinochets Chile geliefert werden sollten. Erst massive Proteste der österreichischen Chile-Solidarität, in der viele SPÖ-Mitglieder aktiv waren, wie auch der Widerstand des damaligen Innenministers Erwin Lanc, führten zum Stopp des Deals. Eine weitere geplante Panzerlieferung nach Argentinien platzte, als dort die Militärs 1982 gegen die Briten um die Falkland-Inseln im Südatlantik Krieg führten.

Leichter als mit südamerikanischen Volksfront-Linken, mit denen er wegen seiner antikommunistischen Grundhaltung Probleme hatte, tat sich Kreisky mit befreiungsbewegten Politikern aus Zentralamerika und der Karibik, die sich zu parlamentarisch-demokratischen Prinzipien bekannten. So erinnerte sich Alfred Gusenbauer in einem "Falter"-Interview an ausführliche Gespräche mit Kreisky und Michael Manley, den sozialistischen Langzeit-Premier von Jamaika. Und auch Sergio Ramirez, Schriftsteller und nach dem Sieg der sandinistischen Revolution 1979 Vizepräsident Nicaraguas, war in Wien als Gast gern gesehen. Olof Palme schrieb laut einem Bericht des deutschen evangelischen Entwicklungsdienstes nach einem Besuch in Nicaragua 1983 den Sandinisten kritisch-solidarisch: "Passt auf, ihr seid dabei, euch vom Volk zu entfernen." Und Kreisky habe Ramírez im gleichen Jahr gesagt: "So lange ihr eure moralischen Prinzipien einhaltet, könnt ihr sicher sein, dass ich auf eurer Seite bin." 1985 wurde Ramírez mit dem vom Altkanzler gestifteten "Bruno Kreisky Preis für Menschenrechte" ausgezeichnet; 1995 trennte er sich von den dogmatisch gewordenen Sandinisten um Daniel Ortega.

Bruno Kreisky erlebte Ramírez' Prinzipientreue nicht mehr. "Der Alte" hatte den Vizevorsitz in der SI 1989 abgeben und war am 29. Juli 1990 gestorben.
Heuer, mehr als 20 Jahre später und angesichts einer neuen Politikergeneration, der die Welt außerhalb Europas wurst zu sein scheint, wollen die in der IUSY organisierten Jungsozialisten in Veranstaltungen Bruno Kreiskys gedenken und "seine Ideen weiter denken", wie es auf ihrer Website heißt, die mit den Polizeifotos des jungen und kämpferischen Sozialisten Kreisky illustriert ist.

(Als Kreisky 1938 von der Gestapo für mehrere Monate verhaftet, verhört und – als Bedingung für seine Freilassung – zum Verlassen des Landes aufgefordert wurde, stellte er sein Auswanderungsansuchen zunächst übrigens für Bolivien. Kurz darauf lud ihn der schwedische Jungsozialist und spätere Außenminister Torsten Nilsson ein, nach Schweden zu kommen.)

Wenn Bruno Kreisky seinen Bewunderern später immer wieder auch Anlass für Ärger gab, der "Alte" stand,  immer "für Internationalismus und globale Zusammenarbeit", meinen seine politischen Enkel und Ur-Enkel heute: "Bruno Kreisky hat zeitlebens international gedacht und gehandelt; er hat früh erkannt, dass große Herausforderungen nur jenseits nationaler Grenzen zu bewältigen sind."