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Der Kopfschutz der Kinder in Tokio gehört zur Anti-Bebenausstattung.

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Die Menschen wappnen sich für die Krise und Stromausfall.

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Der Dienstagmorgen beginnt für die Japaner mit einem Schock. Explosion im Meiler 2 des Kernkraftwerks, im Reaktordruckbehälter auch noch, Radioaktivität tritt aus. Selbst die Manager vom Stromerzeuger Tepco reden immer offener von möglicher Kernschmelze. Dabei hatte es noch am Abend zuvor geheißen, dass der Meiler unter Kontrolle sei. Plötzlich wollen die ersten Japaner ihrem Fluchtinstinkt nicht mehr widerstehen.

Eine Mutter am Tokioter Bahnhof hat sich in einer lange Schlange angestellt. "Ich habe Angst vor der Radioaktivität und fahre erstmal nach Gifu", erzählt sie. Dort will sie abwarten, wie sich die Lage entwickelt. Tokio wird ihr zu heiß. Ihren Mann lässt sie zurück. "Der muss arbeiten", sagt die Mutter und bucht ihre Tickets.

Wachsende Angst

Nicht weit entfernt bereitet auch die 20-jährige Yukari Tsuji ihre Flucht vor. "Ich habe keine Angst, ich denke, es wird nichts bei den Reaktoren passieren", sagt die Studentin. "Aber mein Großvater hat mich nach Nagoya zurückgerufen, weil der Wind auf Richtung Tokio gedreht hat. "

Noch sind es nur Einzelfälle. Noch gibt es in Tokio keine Spur von Massenpanik. Der Monitor über dem Fahrkartenschalter zeigt durch viele grüne Kreise an, dass an freien Plätzen kein Mangel besteht. Berufstätige kämpfen sich pflichtbewusst zur Firma durch, obwohl viele Zuglinien wegen Strommangel seit Montag gar nicht oder seltener fahren. Doch langsam bricht sich die Angst vor dem Super-GAU durch den seelischen Schutzpanzer, den sich die Japaner durch ihr Leben auf dem wackeligen, von Vulkanen übersäten und Taifunen heimgesuchten Archipel zugelegt haben.

Schwindendes Vertrauen

Vor dem Eingang des technischen Kaufhauses Bic Camera kommen die Verkäufer kaum hinterher, kleine Kofferradios auf den Ladentisch zu stapeln. Die Menschen wappnen sich für die Krise und Stromausfall. Einer der Käufer ist Koji Suzuki, das Gesicht halb versteckt hinter einer Maske: "Ich habe Angst vor der Radioaktivität", sagt er. Nur auf ein Radio sei Verlass, eines mit Batterien, das auch ohne Strom läuft.

Am liebsten würde er sich absetzen: "Osaka, vielleicht Hiroshima." Leider ein Wunschtraum. "Ich kann nicht weg, ich habe einen Job." Shoganai, wie die Japaner sagen, da kann man nichts machen. Nur eines wünscht er sich: "Wirkliche Informationen."

Das Vertrauen in die Regierung ist gestört. "Ich glaube der Regierung nicht mehr", sagt Reiko Matsuguchi. Sie schiebt ihre zehn Monate alte Tochter durch die Stadt und sorgt sich dabei immer mehr um die Strahlung. Zu Anfang der Krise hat sie keinen Auftritt von Ministerpräsident Naoto Kan und Kabinettamtschef Yukio Edano versäumt. Doch mit der Zeit fiel ihr eine Kluft zwischen der brisanten Lage im Atomkraftwerk und den beruhigenden Worten der Regierung auf. "Nun schaue ich kein TV mehr", sagt sie.

Zweifel

Radiokäufer Suzuki hegt aus einem anderen Grund Zweifel: "Ich vertraue der Regierung nicht voll, weil sie wahrscheinlich nicht die ganze Wahrheit sagt, um den Ausbruch von Panik zu vermeiden." Er hält diese Sorge für nicht berechtigt, denn er kann sich nicht vorstellen, dass seine Mitbürger ihrer Angst freien Lauf lassen: "Hamsterkäufe ja, Davonlaufen nein."

Die offene Frage ist, ob die bewundernswerte Panikresistenz der Japaner auch der wachsenden Angst vor dem Super-GAU standhält. Denn ein Atomunfall ist anders, unbekannt und unsichtbar. Der Tod kommt schleichend. Die am schlimmsten verstrahlten Regionen um ein AKW können vielleicht für Jahrzehnte nicht mehr betreten werden.

Daniel Coughlin, ein halbjapanischer Straßenmusiker aus der 70 Kilometer von den Krisenreaktoren entfernten Stadt Fukushima, findet es jedenfalls immer schwieriger, seine Angst im Zaum zu halten. "Ich habe keine Worte, ich kann mir einfach nicht vorstellen, was passieren könnte." Sein Ventil gegen die Panik ist die Musik. "Ich will, dass die Menschen sich in dieser gefährlichen Lage für einen Augenblick entspannen können", sagt Coughlin. Aber im Davonlaufen sieht auch er nicht sein Heil, mangels Alternative. "Wenn die Regierung 'Bleibe im Haus' sagt, dann werde ich das machen. Denn es ist schließlich die einzige Information, die ich habe." (Martin Kölling aus Tokio/DER STANDARD-Printausgabe, 16.3.2011)