Robert Wilsons Schnittmuster-Theater. Eine der schönsten Bildraffinessen - Angela Winkler als Jugendstil-Silhouette inmitten einer Zypressenallee - bekam Szenenapplaus.

Foto: Lesley Leslie-Spinks

Die alte Theaterschatulle am Schiffbauerdamm (außen grau, innen plüschig) gehört dem Dramatiker Rolf Hochhut. Was man vor allem dann bemerkt, wenn der mit dem künstlerischen Hausherrn Claus Peymann aneinandergerät. Der wiederum hat sich inzwischen in Berlin mit seiner Melange aus politisch korrektem, staatstragendem Protestiertheater und einer blankpolierten Bühnenästhetik irgendwie unentbehrlich gemacht. Der Texaner Robert Wilson gehört zu dieser Strategie.

Ob mit Büchner, Shakespeare oder dem Brecht/Weill-Klassiker: Was der Allrounder seinem Schnittmuster-Theater einverleibt, wird allemal zum Kassenfüller. Diese Art von unverbindlicher Weltläufigkeit bedient das neue Berliner Hauptstadtgefühl. Daher darf es jetzt bei Wilsons Version von Frank Wedekinds Lulu eine von Lou Reed in Englisch dazu getextete, von Stefan Rager und seinen Musikern live beigesteuerte Songeinlagen-Tonspur geben. Was sogar unfreiwillig witzig ist, wenn es bewusst oder unbewusst mit preußischem Akzent unterlaufen wird.

Ansonsten gibt es die bewährten, perfekt ausgeleuchteten Bild-Raffinessen. Die schönste ist eine Allee, wo zwischen den Zypressen Kristallluster hängen und sich Angela Winkler in der Ferne wie eine Jugendstil-Silhouette abzeichnet: dem Premierenpublikum einen Szenenapplaus wert.

Auch sonst liefert die Licht-, Farb- und Designwerkstatt genau das, was man von ihr erwartet: schöne aufgelockerte Bilder von grafischer Eleganz. Da genügen ein paar Staffeleien und leere Bilderrahmen, um das Atelier des Malers Eduard Schwarz anzudeuten. Eine wie hinskizzierte Galerie mit Treppe und ein paar Schiebewände reichen für die Villa von Dr. Schöning.

Und für den Londoner Straßenstrich wird alles auf die Figuren und Gesichter reduziert, die aus dem Dunkel leuchten. Immerhin schaffen es vor allem die älteren Mimen durch die Kostüme und Masken von Jacques Reynaud hindurch Persönlichkeit einzubringen, den Triumph der Oberfläche mit Charisma zu unterlaufen.

Meister darin ist Jürgen Holz, der aus seinem traurig wachen Schigolch-Clown ein Kabinettstück macht. Oder Alexander Lang als schlaksiger Dr. Schöning, Anke Engelsmann als gouvernantenhafte lesbische Gräfin Geschwitz und Ruth Glöss, die in Hausmeisterkittel und mit Brecht-Schiebermütze als Running Gag durch die Szene geistert und sich mit den gesummten Dauerfragen "Warum betrügst du mich, warum betrüg ich dich, warum betrüg ich mich?" im Kopf festsetzt.

Natürlich ist auch Angela Winkler stärker als jede Maske. Die 67-jährige Diva hält ihre Lulu-Paraphrase auf einem gleichbleibend wohltemperierten Einheitsniveau, singt im zarten Jungmädchenton, staunt ihr Großes-Augen-Staunen. Vor allem aber lächelt und kichert sie sich wie Lulus Geist durch Wilsons Bühnenwunderland.

All das ist gelegentlich unterhaltend, manchmal witzig, meist aber ein illustrierender Leerlauf der gut geölten Wilson-Maschinerie. Nur Wedekinds Lulu, diese Röntgenaufnahme der Doppelmoral, die uns immer noch betrifft, die gibt es im Berliner Ensemble nicht. Dem Publikum war das egal. (Joachim Lange aus Berlin, DER STANDARD/Printausgabe 14.4.2011)