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"Mir nach", könnte dieses Spiel heißen. Wem Kinder folgen sollen, bleibt in strittigen Pflegschaftsangelegenheiten oft zu lange offen. Generell werden Pflegeeltern dringend gesucht.

Foto: APA/Neubauer

Wien - Deutlicher hätte der Rüffel der Straßburger Richter kaum ausfallen können: "Die österreichischen Behörden konnten keine befriedigende Erklärung dafür geben, warum die Prozesse so langsam abliefen und es sogar zu einem Stillstand kam." Daher, so der Spruch des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs im Fall des Pflegeelternpaares Anna K. und Viktor L.: Österreich hat gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen, das "Recht auf Schutz des privaten und Familienlebens".

Die Republik Österreich wurde zu einer Geldstrafe verdonnert (insgesamt 10.000 Euro), am persönlichen Drama des Paares ändert das nichts. Die beiden hatten 1997 ein zweijähriges Pflegekind bei sich aufgenommen, das seiner drogenkranken Mutter abgenommen worden war. Nach vier Jahren hatte sich die leibliche Mutter erholt, das zuständige Bezirksgericht stellte eine positive Bindung des Kindes zu ihr fest, das Kind kam wieder zu ihr. Weiterer Kontakt zwischen Pflegeeltern und Kind wurde untersagt - mit dem Argument, das Ausbleiben eines Kontaktes würde des Kindes Wohlbefinden nicht weiter berühren.

Pinterits: Entscheid "hoch interessant"

Die Pflegeeltern legten Berufung ein, der Fall ging in die Instanzen - und wurde verschleppt. 2005 stellte das österreichische Höchstgericht fest: Die Bindung zwischen leiblicher Mutter und Kind sei eng und positiv, ein neuerlicher Kontakt zu den einstigen Pflegeeltern würde das Kind in Loyalitätskonflikte stürzen.

Dieser Argumentation konnten sich die Straßburger Richter nicht anschließen - umso weniger, als man am Bezirksgericht plötzlich zugab, die Pflegeeltern hätten durchaus gute Chancen auf ein Besuchsrecht beim Pflegekind gehabt, wenn denn ihr "Fall" schneller bearbeitet worden wäre.

Die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits empfindet den Spruch der Straßburger Höchstrichter als "hoch interessant" - umso mehr, als er sich mit ihren Wahrnehmungen durchaus trifft: "Familienrichter tendieren in den letzten Jahren dazu, auch in strittigen Fällen zugunsten der leiblichen Eltern zu entscheiden." Dies habe wohl mit dem gesellschaftlichen Diskurs zu tun, mit der wachsenden Komplexität der Fälle - und mit einem ganz praktischen Problem. Pinterits: "Familienrichter sind keine Experten in Sachen Jugendwohlfahrt. Sie beauftragen gerichtlich beeidete Gutachter, deren Gutachten dann die Grundlage ihrer Entscheidungen bilden." Damit seien Richter auf der "sicheren Seite".

Kritk: Bindung zwischen Kind und Pflegeeltern nicht berücksichtigt

Die Arbeit der Gutachter sei freilich "von unterschiedlicher Qualität". Die Kinder- und Jugendanwältin stört beispielsweise massiv, "dass in vielen Fällen nur die Interaktion zwischen leiblichen Eltern und Kind begutachtet wird". Die Bindung zwischen Pflegeeltern und Kindern werde oftmals nicht beurteilt. Dann werde Pflegeeltern, die schon viele Jahre für ihr Pflegekind sorgten, dieses abgenommen - "und die Prognose über die weitere Zukunft des Kindes mit den leiblichen Eltern ist trotzdem sehr unsicher" - weil, zum Beispiel, mit den Eltern in der Zwischenzeit "nicht oder nur wenig gearbeitet wurde". Oder es werde "ein Besuchsrecht um jeden Preis gewährt, selbst, wenn zuvor Gewalt ein Thema war".

Das Problem betrifft die Stadt Wien auch insofern, als Pflegeeltern dringend gesucht werden: 518 Pflegefamilien sind in Wien registriert, mehr werden gesucht - etwa auch in Migrantenkreisen oder unter homosexuellen Paaren. Pinterits: "Es macht die Sache nicht einfacher, wenn dann Richter-Entscheidungen kaum nachvollziehbar erscheinen."

Außergerichtliche Stelle

Es sei "die belastendste Entscheidung überhaupt", sagt die Jugendanwältin, wenn Richter über die Zukunft kleiner Menschen entscheiden müssten. Daher solle man sie damit "nicht alleine lassen". Pinterits fordert daher "eine Stelle außerhalb des Gerichts", die automatisch angerufen werde, sobald es um Pflege- oder auch Obsorge-Streitigkeiten gehe: Jugend- und Sozialarbeiter, Kinder- und Jugendpsychiater und Mediatoren sollten strittige Fälle zunächst einmal, gemeinsam mit allen Beteiligten, bearbeiten. Pinterits: "Wir müssen dahin kommen, dass Pflegschaftsgerichte nur in aussichtslosen Fällen angerufen werden." Das derzeit laufende Pilotprojekt "Familiengerichtshilfe" sei zwar "ein Fortschritt, dient aber letztlich nur dazu, das Gericht zu beraten". Zielführender wäre, von Beginn eines Konflikts an mit den Familien zu arbeiten.

Zudem wünsche sie sich "eine Diskussion darüber, wie lange einmal abgenommene Kinder wieder zurück zu ihren leiblichen Eltern sollen" - dies sei überhaupt nicht festgelegt. Pinterits, die auch in der interministeriellen Arbeitsgruppe zur Reform der Obsorge sitzt, hält das "Arbeiten mit den Eltern für unbedingt notwendig. Alles andere ist selbst-entmündigend".

Dass das Problem ein virulentes ist, zeigen die Zahlen: 2010 wurden in Wien insgesamt 742 Kinder und Jugendliche "untergebracht", wie es im Jugendamt-Jargon heißt. 549 in Wohngemeinschaften, 193 bei Pflegeeltern. (Petra Stuiber, DER STANDARD, Printausgabe, 24.1.2012)