Wo viel Verkehr ist, gehen Städter ungern spazieren. Begegnungszonen wie jene in der Mariahilfer Straße stoßen da auf mehr Gegenliebe. Für den Briten Eugene Quinn hingegen ist Gehen immer und überall interessant.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Ein Mann, dem ein Bein fehlt, geht im Regen. Er setzt immer wieder das Gehgestell vor sich ab und zieht sich für seinen Spaziergang in der Wiener Favoritenstraße unbeirrt daran vorwärts.

Die Symbolik ist perfekt, geht es für Eugene Quinn doch gerade um die Bedeutung des Zu-Fuß-Gehens. Ein Spaziergang von Leopoldstadt nach Favoriten soll einige der für Quinn zahlreichen Aspekte des Gehens veranschaulichen – etwa jenen, dass am als hip gehandelten Karmelitermarkt bei Tageslicht und Schönwetter weniger Menschen unterwegs sind als am Viktor-Adler-Markt bei Dunkelheit und Regen. Die lebendigsten Grätzel Wiens seien jene, die von Einwanderern geprägt sind, meint Quinn.

Motivation zum Gehen

Der Brite ist Mitinitiator der Kulturplattform "Space and Place", die sich mit urbaner Dynamik beschäftigt und die Stadt mit ausgefallenen Touren "neu erfinden" will. Und er ist Botschafter des Zu-Fuß-Gehens bei der internationalen Walk-21-Konferenz, die bis Freitag im Wiener Rathaus abgehalten wird. Experten widmen sich dort der Frage, welche Probleme das Gehen in der Stadt mit sich bringt, und wie es, etwa durch stadtplanerische Maßnahmen, attraktiver werden kann. Denn laut einer Studie der Stadt Wien aus 2013 geben 76 Prozent der Befragten eine "schöne Umgebung" als Motivation zum Gehen an. Umgekehrt würde 46 Prozent der Verkehr (Lärm, Geschwindigkeit) vom Spaziergang abhalten.

Das Zu-Fuß-Gehen in Städten gewinnt weltweit an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Für Quinn zeigt sich das etwa an der Firma walkscore.com. Sie bietet ein Tool an, mit dem eine neue Wohnung anhand der Fußgängerfreundlichkeit in der Umgebung gesucht werden kann. Das Ziel sei, so heißt es auf der Homepage, das Wohnen in gehfreundlichen Stadtvierteln zu bewerben; das sei die ökologisch, gesundheitlich und ökonomisch beste Lösung.

Telephonweg versus Mariahilfer Straße

Das Tool verzeichnet zwar keine Immobilien in Europa, die hiesige Fußgängerfreundlichkeit kann man sich aber trotzdem berechnen lassen. Der Telephonweg in Wien-Donaustadt kommt zum Beispiel auf nur fünf von 100 möglichen Punkten ("autoabhängig"), die Mariahilfer Straße im sechsten Bezirk auf 99 ("Fußgängerparadies"). Im internationalen Vergleich erreicht unter anderen der Stadtteil Chinatown in New York City 100 Punkte. In der US-Metropole werden 39 Prozent der Alltagswege zu Fuß zurückgelegt, in Wien 26 Prozent.

Bewertet wird auf walkscore.com nicht nur, ob Bildungsstätten und Einrichtungen des täglichen Bedarfs in Gehweite liegen. Parameter sind auch die Bevölkerungsdichte oder die Anzahl an Straßenkreuzungen.

40 bis 200 Prozent teurer

Dass sich die Gehqualität eines Stadtteils auf die Immobilienpreise auswirken kann, zeigt etwa eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2014 der Organisation "Smart Growth America", die sich dem Zu-Fuß-Gehen in den 30 größten Metropolen der USA widmet. Liegenschaften in gut begehbaren urbanen Gebieten sind demnach 40 bis 200 Prozent teurer als solche in (ländlichen) Gebieten, in welchen man auf ein Auto angewiesen ist.

Auch in Wien spielt die Möglichkeit des Zu-Fuß-Gehens eine Rolle bei der Preisbildung, sagt Andreas Oberhuber von der Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen und Planen. Das entscheidende Kriterium sei aber die Lage, also neben Erreichbarkeit und Infrastruktur auch die Frage, wie viel in das Grätzel investiert, ob es aufgewertet oder vernachlässigt wurde. Die Mobilität zu Fuß könne in Wien bei den Preisaufschlägen auch einmal nachrangig sein, weil sie mit einem gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsnetz kompensiert werde, so Oberhuber.

Mitmenschen kennenlernen

Für Quinn ist Gehen mehr als eine ökologische und kostengünstige Fortbewegungsart. Wer zu Fuß gehe, baue eine Beziehung zu seinen Mitmenschen und seiner Stadt auf. Er lerne Rhythmus, Geschichte und Architektur der Stadt kennen. Deshalb lässt sich der leidenschaftliche Fußgänger weder von Regen noch Kreuzungen oder Abgasen tangieren. "Am Ende des Tages will ich eine Geschichte erzählen können", sagt Quinn. "Das kann ich nicht tun, wenn ich im Auto gesessen bin." (Christa Minkin, 23.10.2015)