Mitmachen ausdrücklich erwünscht: Den Pinsel muss sich jeder Besucher selbst in den Hintern stecken, um damit Kreise zu malen. Aber Gelatin hat in der Kunsthalle im Museumsquartier genug Pinsel für alle.

Foto: eSeL.at – Lorenz Seidler

Neben diversen Varianten von Kotwürsten – es gibt davon etwa ein Alphabet sowie eine Torte – gehören auch wilde Kostüme zu Gelatins wiedererkennbarem Stil.

Foto: eSeL.at – Lorenz Seidler

Graue Klötze sind im Obergeschoß der Wiener Kunsthalle zu riesigen Wänden gestapelt. Derweil bilden sie einen Nachtclub und eine Höhle voll nackter Menschen. An der Wand hängen stangenweise fleischfarbene Kostüme, und am Boden liegen ein paar braune Kotwürstel. Natürlich keine echten, sondern überlebensgroße, sie stinken auch nicht. Ein herrenloser Rollstuhl dient als Sitzmöbel zum Lungern.

Die Wiener Künstlertruppe Gelatin dreht ab sofort gemeinsam mit dem britischen Bildhauer und Regisseur Liam Gillick einen Film. Die Details des Projekts Stinking Dawn wurden inzwischen schon einmal umgeworfen und mit roten Klebestreifen an den Wandtexten vermerkt. Durchgestrichen sind Passagen wie: dass die Arbeit nach dem Drehbuch Gillicks abläuft.

Während der Drehtage bis Ende nächster Woche wird das Set immer wieder komplett umgebaut. Eigentlich ist es viel zu klein, erzählen die Künstler. Trotzdem ist Publikum zum Mitmachen eingeladen. Bis Oktober werden die Ergebnisse des Drehs ausgestellt. Vier Fragen zum Vorgeschmack.

1. Was erwartet die Besucher?

Wieder einmal arbeitet Gelatin gegen die Spielregeln, die eine Institution vorgeben könnte. "Wir haben beschlossen, keiner von uns braucht noch eine Ausstellung zusätzlich zu diesen ganzen Shows, die wir in Wien ohnehin schon machen. Was sollen wir da noch zeigen? Wir missbrauchen also die Kunsthalle, um zu tun, was wir tun wollen", sagt Florian Reither von Gelatin.

Ein Sturm gegen die Institution Kunsthalle hätte allerdings wenig Sinn gehabt, denn als deren früherer Leiter Nicolaus Schafhausen Gelatin und Liam Gillick zusammenbrachte, war Chaos abzusehen. "Also hatten wir die Idee mit dem Kino", sagt Gillick. "Die Welt des Kinos ist die beschränkende Sache, gegen die wir anrennen: Die Regeln, wie man eine Szene dreht, sie wiederholt, das ist Sadismus."

2. Worum geht es bei Stinking Dawn?

Knapp gesagt um den eigenen Platz in der Welt. Pate stehen der französische Philosoph Gilles Châtelet und der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli. Châtelet nahm sich an Aids erkrankt das Leben, Feltrinelli wurde tot unter einem Strommast gefunden, den er zu sprengen versucht hatte. "Das Projekt dreht sich darum, was passiert, wenn man meint, dass es keine andere Option mehr gibt als radikal zu handeln. Egal, ob die Aktion dann gegen einen selbst oder ein System geht", erklärt Gillick.

Wir alle hätten starke Persönlichkeiten und verschiedenste Ideen, Wünsche und Leidenschaften und seien zudem voller Schwächen und Fehler, trotzdem verknete man uns ständig in Statistiken zu leicht fasslichen Gruppen, die dies und das konsumieren oder wählen, sagt Reither: "Das ist Bullshit." Stinking Dawn spielt einen Kampf von persönlicher Freiheit und festen Strukturen durch, die der Mensch offenbar gleichermaßen braucht. "Wir sehen das hier am Set. Die Technikleute wollen gesagt kriegen, was zu tun ist und wo sie in der Hierarchie stehen. Wir wollen im Job wichtig sein, weil wir meinen, wir fühlen uns dann besser."

3. War im Vorfeld eine Idee zu krass?

Es gab während der Planungen nie einen Punkt, an dem Gillick und Gelatin sich fragten, was sie machen könnten, das wirklich verrückt ist, beteuert Gillick. Aber zwischen Kothaufen und etwa einem Brunnen, der einen nackten Mann nachbildet, der sich selbst mit erigiertem Penis einen Urinstrahl in den Mund spritzt, ist das Gute und Schöne in Gelatins OEuvre mindestens relativ. 2003 regte besagter Arc de Triomphe in Salzburg gehörig auf.

"Es gibt Dinge, die wir nicht machen würden, weil sie langweilig, faschistoid oder rassistisch sind. Auch in Altherrenwitze darf man nicht reinrutschen", sagt Reither. "Wir nehmen absolut ernst, was wir machen. Aber es ist lächerlich, so zu tun, als hätte man eine Lösung gefunden oder wüsste etwas und präsentiert es der Welt."

Hinter jeder scheinbaren Provokation steht bei Gelatin insofern eine Befreiung. Auch von schweren Themen wie Tagespolitik, Religion oder Waffenhandel. "2000 Jahre Kunstgeschichte setzen sich über sowas hinweg. Wir wollen also starke Bilder machen. Uns interessiert, wie man Kunst macht. Damit hat man genug zu tun."

4. Warum sollte man sich das anschauen?

Unter anderem, weil man Gelatin ganz nahe kommt. "Jeder kann sich ein Kostüm anziehen und einen Pinsel in seinen Hintern stecken. Es gibt keine Vorabtreffen und kein Skript. Wir stecken niemandem den Pinsel hinein, das muss jeder schon selbst tun, aber wir haben genug Pinsel!"

Zugleich trägt jeder Besucher dazu bei, das partnerschaftliche Glück zu wahren. Seit 40 Jahren sind Gelatin befreundet, seit fast 30 Jahren arbeiten die vier miteinander. "Der Alltag wird teilweise schwieriger, wenn man sich schon so lange kennt. Wenn fremde Leute dabei sind, zerfleischen wir uns nicht so. Bei Familienfesten ist es auch gut, wenn man Gäste einlädt, die nicht verwandt sind, dann benimmt sich die Familie besser." (Michael Wurmitzer, 5.7.2019)