Christian Singer ist Gynäkologe, leitet das Brustgesundheitszentrum an der Meduni Wien und ist Vorstandsmitglied der ABCSG-Studiengruppe, die Brustkrebs erforscht.

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Krebszellen haben molekulare Charaktereigenschaften, von ihnen hängt heute die Behandlung ab.

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Es gibt eine aufsehenerregende Erkenntnis in der Onkologie: Jeder hat seinen eigenen, höchstpersönlichen Krebs. Wurde jahrzehntelang immer das von Tumoren befallene Organ als wichtigstes diagnostisches Kriterium gewählt, so wissen Forscher wie Christian Singer vom AKH Wien, wie unterschiedlich Tumoren in ein und demselben Organ sein können.

STANDARD: Die Diagnose Brustkrebs ist für jede Frau ein großer Schock. Die ersten Gedanken: Operation, vielleicht sogar eine Entfernung der Brust, und dann die Chemotherapie mit all ihren Nebenwirkungen. Stimmt diese Gedankenkette überhaupt noch?

Singer: So haben wir jahrzehntelang behandelt. Es dauert immer eine Weile, bis sich die Assoziationen zu einer Erkrankung verändern. Tatsächlich erleben wir gerade einen Paradigmenwechsel.

STANDARD: Inwiefern genau?

Singer: Brustkrebs ist nicht gleich Brustkrebs. Früher wurden alle Patientinnen mehr oder weniger ähnlich behandelt. Heute geht es erst einmal darum, den spezifischen Tumor einer Frau sehr genau zu identifizieren. Wir typisieren das Mammakarzinom, bevor wir es behandeln, weil wir wissen, dass der langfristige Erfolg maßgeblich von den biologischen Merkmalen abhängt. Sie sind von Frau zu Frau verschieden.

STANDARD: Wird diese Typisierung Standardmäßig vorgenommen?

Singer: In jedem Brustgesundheitszentrum in Österreich sollte das der Fall sein. Deshalb rate ich allen Frauen, sich bei einem Verdacht auf Brustkrebs stets an diese zertifizierten Spitäler zu wenden. Der Fortschritt in der Behandlung ist sehr groß, die Brustgesundheitszentren sind gut vernetzt und kommunizieren alle wichtigen neuen Studienerkenntnisse. Das sind wichtige Voraussetzungen für eine bestmögliche Behandlung. Typisierung ist ein Teil davon.

STANDARD: BRCA1, BRCA2, HER2, PDL-1?

Singer: Genau, diese Abkürzungen sind so etwas wie Charaktereigenschaften. Wir untersuchen, ob Tumoren ein Protein namens HER2 exprimieren, ein Hinweis auf Aggressivität, und setzen dann eine Antikörpertherapie ein. Auch der Gendefekt BRCA1 oder BRCA2, der bei jeder fünften Brustkrebspatientin im Blut nachgewiesen wird, ist wichtig, weil die Diagnose dann "triple-negativer Brustkrebs" lautet, ebenfalls eine aggressive Form, für die wir aber sogar im fortgeschrittenen Stadium neue BRCA-spezifische Medikamente haben.

STANDARD: Was ist mit der Biopsie des Tumors selbst?

Singer: Auch im Tumorgewebe lassen sich Schlüsse zur Aktivität bestimmter Gene ziehen. Aus all diesen Daten erstellen wir Risikoprofile , diskutieren sie in sogenannten Tumorboards und entscheiden dann gemeinsam mit den Patientinnen den Behandlungsfahrplan, also den Mix an Maßnahmen und Medikamenten.

STANDARD: Heißt das, dass nicht jede Frau unbedingt eine Chemotherapie bekommen muss?

Singer: Genau, die Mehrzahl der Brustkrebspatientinnen braucht keine Chemotherapie mehr. Gerade die sogenannten Östrogen-empfindlichen Tumoren lassen sich mit dem Medikament Tamoxifen gut behandeln. Es hat die Anzahl der Rückfälle halbiert, die Todesfälle um 30 Prozent reduziert. Mit den Aromatase-Inhibitoren haben wir eine weitere sehr gut wirksame Medikamentenklasse. Allerdings gibt es immer noch Patientinnen, die nach wie vor eine Chemotherapie brauchen.

STANDARD: Von wie vielen unterschiedlichen Arten von Brustkrebs gehen Sie aus?

Singer: Wir teilen Mammakarzinome heute in vier Hauptgruppen ein (siehe Kasten). Abgesehen davon spielt immer auch der Zeitpunkt der Diagnose eine große Rolle. Je fortgeschrittener die Erkrankung, desto schwieriger ist es, sie zu behandeln.

STANDARD: Was sind da die Kriterien?

Singer: Eigenschaften wie Aggressivität, schnelles Wachstum, aber auch die Frage, ob und wohin ein Tumor gestreut hat, also in welchen anderen Organen er Metastasen bildet. Erst aus der biologischen Zusammenschau ergibt sich das Gesamtbild.

STANDARD: In manchen Gebieten der Onkologie stellen sich Immuntherapien als große Hoffnung heraus. Auch bei Brustkrebs?

Singer: Ja, wenn Brustkrebspatientinnen ein Protein namens PDL1 aufweisen, sind Immuncheckpoint-Inhibitoren eine Option. Ihr Einsatz hängt vom Erkrankungsstadium und den biologischen Merkmalen des Tumors ab. Sie wirken über das Immunsystem, das bei der körpereigenen Abwehr von Krebszellen eine Schlüsselrolle spielt.

STANDARD: Früher waren Immuntherapien die letzte Option. Ist das noch so?

Singer: Nein, das verändert sich gerade. Interessanterweise wirken Immuntherapien in bestimmten Fällen besonders gut, wenn sie als erste therapeutische Option, also etwa schon vor der Operation, gegeben werden. Wir können dem Brustkrebs dann beim Schmelzen zusehen.

STANDARD: Welche guten Nachrichten gibt es heute schon?

Singer: Dass wir bei extrem aggressiven Tumoren viele neue, sehr wirksame Medikamente haben, werten wir als großen Fortschritt. Auch die Typisierung von Karzinomen gelingt uns dank des technischen Fortschritts und der entsprechenden Maschinen immer besser und schneller. Damit können wir tatsächlich maßgeschneidert therapieren. Das erspart vielen Frauen unangenehme Nebenwirkungen. Und umgekehrt: Wenn wir sehen, dass ein Tumor aggressiv ist, können wir auch starke Geschütze auffahren.

STANDARD: Was ist mit Heilung?

Singer: Das gelingt in frühen Stadien der Krebserkrankung bei der Mehrzahl von Patientinnen heute schon. Durch die Immuntherapie haben wir die Hoffnung, dass wir das auch bei fortgeschrittenen Brustkrebserkrankungen schaffen werden. In jedem Fall gelingt es uns aber auch jetzt schon, das Fortschreiten der Erkrankung einzudämmen und damit das Gesamtüberleben zu verlängern. Aus ärztlicher Sicht ist das wirklich ein Paradigmenwechsel. (Karin Pollack, 19.10.2019)