Mit Vorschusslorbeeren wechselt Martin Schläpfer nach Wien.

Foto: Max Brunnert

Aufbruch, Reibung und Arbeit. Das sind Reizwörter, die Martin Schläpfer verwendet, wenn er auf seine künftigen Funktionen als Direktor des Wiener Staatsballetts und als künstlerischer Leiter der Ballettakademie angesprochen wird. Und weil der gebürtige Schweizer – heute einer der prominentesten Ballettchoreografen Deutschlands – ein überlegter Charakter ist, setzt er noch nach: "Man wird sehen, was sich daraus entwickelt."

Ab Beginn der Spielzeit 2020/21 will der 60-Jährige als Nachfolger von Manuel Legris im Haus am Ring und in der Volksoper neue Akzente setzen. Im Moment bereitet er noch seinen Abschied als Tanzchef der Deutschen Oper am Rhein vor, die in Düsseldorf und Duisburg verortet ist. Epidemiebedingt wird das ein Farewell im Ausnahmezustand. Da könne man nur "relativ gelassen bleiben", kommentiert der Choreograf.

Spitzenkraft

Zurück zur Zukunft. Er sei, sagt Schläpfer im Gespräch mit dem STANDARD, "einer der wenigen noch verbliebenen Choreografen-Direktoren, die ein großes Haus leiten". Seit 1994 hat er in Bern, Mainz und anschließend in Düsseldorf gezeigt, dass er’s bestens kann. Bogdan Rošcic, designierter Staatsoperndirektor nach Dominique Meyer, konnte hier zweifellos eine Spitzenkraft akquirieren. Schläpfer hat mit seinem Œuvre von mehr als 70 Stücken einem deutschen Kritiker zufolge "ein glanzvolles Kapitel deutscher Ballettgeschichte geschrieben".

Nicht weniger braucht es auch für die 103-köpfige Wiener Compagnie, die – nach ihrem Schlingerkurs unter Renato Zanella und einem Durchhänger bei Gyula Harangozó – von Manuel Legris zu einem der besten Ballettensembles Europas entwickelt wurde. Legris war mit seinem Klassik-Fokus so beliebt, dass die durchschnittliche Auslastung der Tanzaufführungen in der vorigen Saison jene der Opern übertraf. Das hatte es zuvor noch nie gegeben.

Trennung obsolet

Jetzt ist der Moment, einen neuen Sprung zu wagen. Für Schläpfer heißt das: "Integrieren, was da war, und nach vorne schieben in Bereiche, die meiner Meinung nach bisher zu wenig berücksichtigt wurden. Klassische Handlungsballette werden ihren Platz im Spielplan behalten." Das gehöre zu dieser Compagnie, sei aber eine Frage des Ausmaßes. "Und ich finde schon, dass eine Weltcompagnie von dieser Größe auch ganz klar den zeitgenössischen Tanz repräsentieren soll."

Die einst übliche strikte Trennung zwischen "klassisch" und "modern" hält er für obsolet. Also würde ihm im Idealfall vorschweben, dass man "zum Beispiel ein Stück von Lin Hwai-min ganz selbstverständlich neben einem Nurejew-Schwanensee" zeigt. Zur Erinnerung: Der Choreograf Lin Hwai-min leitet in Taiwan das international gelobte, bei uns durch seine Gastspiele bei Impulstanz und im Festspielhaus St. Pölten bekannte Cloud Gate Dance Theatre.

Ballettakademie: Reformstau bearbeiten

Mit der Ballettakademie hat Schläpfer jetzt die Gelegenheit, einen nach dem Skandal des Vorjahres offenen Reformstau zu bearbeiten. Auch da scheint Rošcic an den Richtigen geraten zu sein: "Mich hat auch die Schule nach Wien gelockt: Weil ich seit dreißig Jahren unterrichte. Damit habe ich begonnen – und nicht als Choreograf oder Ballettdirektor." Er hat die Akademie bereits unter die Lupe genommen. "Wir sind da am Bauen und Evaluieren. Nach dem Bericht der Sonderkommission habe ich zusammen mit Rošcic eine vierköpfige Expertengruppe gegründet, die den ganzen Prozess begleitet, damit hier die richtigen Weichen gestellt werden."

Die Gruppe setzt sich zusammen aus Mavis Staines, Leiterin der National Ballet School in Toronto, Jason Beechey, Rektor der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden, Patrick Armand, Leiter der San Francisco Ballet School, sowie dem niederländischen Tanzpädagogen und Leiter des Holland Dance Festival Samuel Wuersten. Ein erlesenes Team, dessen Analyse die Basis für die Neustrukturierung der Akademie bildet.

Schläpfer will hier "im Vergleich mit Institutionen, die strukturell und personell den richtigen Standard haben", arbeiten. Es brauche "ganz klare Regelungen für die Kinder und den Umgang mit ihnen". Als grundsätzliches Ziel formuliert der künftige künstlerische Leiter der Schule, "dass diese akademische Ausbildung nicht weiter in Verruf kommt, sondern dass man etwas baut, das das Gegenteil beweist". Das gelte ganz allgemein, denn kürzlich ist auch die Staatliche Ballettschule in Berlin in Kritik geraten.

"Es wird nicht ohne zusätzliche Mittel und ein klares Bekenntnis für diese Akademie gehen", fügt Schläpfer an. Was von den bisherigen Aussichten auf ausreichende Finanzierung nach den Belastungen durch die Epidemie übrig bleibt, ist abzuwarten. Aber der bekennende Wien-Fan ist eine Kämpfernatur. In Zeiten wie diesen keine schlechte Eigenschaft. (Helmut Ploebst, 20.3.2020)