Hegel (1770-1831) auf einem zeitgenössischen Kupferstich von R. Cremer: Im Schlafrock, samtig behütet, erschließt der selbstreflexive Kopf die ganze Welt.

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Für einen Philosophen, der die krude Welt der Erscheinungen in reines, logisch abgeleitetes Wissen übersetzen wollte, war der Schwabe Hegel ein bemerkenswert aufgeräumter Mann. Zeitgenossen wie Goethe priesen sein Talent zur Geselligkeit: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) sprach nicht nur ausgiebig dem Rebensaft zu. Der berüchtigtste Systemphilosoph des Deutschen Idealismus spielte Billard und brachte seine Jenaer Haushälterin in gesegnete Umstände. Als er, endlich arriviert, nach 1818 in Berlin Vorlesungen hielt, frappierte er die Hörer mit Genuschel und verworrenen Sätzen.

Bis heute ist Hegel der Chimborazo des Deutschen Idealismus geblieben. Stöhnen die einen über die "Eiswüste" seines Denkens, erklimmen die anderen seine Schultern. Karl Marx entlieh von Hegel die dialektische Methode. "Linkshegelianer" übernahmen den Kniff der "bestimmten Negation": Will der Geist in der allmählichen Entfaltung zu sich kommen, muss er durch die Aufhebung seiner selbst hindurch.

Operationen des Geistes

Was uns unmittelbar entgegentritt, soll zugleich durch unser Denken "für uns" vermittelt sein. Hegels Operationen erweisen die Geschichte des "Geistes" als Aufhellung, als ein Durchsichtig-Werden. Dabei hebt sich die Struktur des Bewusstseins auf dem Weg vom "Verhältnis" zum "Selbstverhältnis" quasi auf. Denken, so Hegel, kann nicht anders als in Relationen vonstatten gehen. Zugleich ist dieser am 27. August 1770 in Stuttgart geborene Mann der Prophet der Freiheit. Das sich selbst erschließende Denken muss zur Wissenschaft (seiner selbst) werden. Es beschreibt aber auch die Selbstverwirklichung der Vernunft in der Geschichte. Bereits vor 30 Jahren rief Rudolf Burger das beunruhigende Erbe Hegels in Erinnerung: In seinem Großwerk "Die Phänomenologie des Geistes" (1807) kommentierte der spätere Staatsphilosoph den kaum zurückliegenden Terror der Französischen Revolution.

Der Umschlag des dialektischen Prozesses lässt sich, streng logisch genommen, zustimmend verstehen. Der "allgemeine Wille" und das "Bewusstsein" heben einander an einem Punkt ihrer Vermittlung auf. In der "absoluten Freiheit" droht dem Selbst der "reine Schrecken des Negativen", der "bedeutungslose Tod". Hegel, ein Freund der Guillotine? Im Licht solcher Kälteschocks versteht man die Hegel-Aktualität im Zeitalter der Totalitarismen. Anno 2020 muss sich die Frage nach der Wirkung des Hegel‘schen Einflusses mit vorsichtigen Antworten begnügen. Man muss behutsam graben, um die vitalisierenden Aspekte dieser Reflexivität zu erschließen.

Die famose neue Hegel-Biografie des Jenaer Professors Klaus Vieweg ("Der Philosoph der Freiheit", C.H. Beck) entleiht die Methode gleichsam ihrem Gegenstand. Man kann und muss Vieweg vielleicht wie Hegel lesen: Die Begriffe erscheinen als die Helden der Prosa. Sie gehen miteinander flüchtige Beziehungen ein, wirbeln umeinander herum, setzen einander frei, so wie man Kinder in die Welt setzt. Wörter wie "Geist" oder "Selbst" sind dann gleichsam so viel wert wie "Hegel" oder "Hölderlin" (Hegels Tübinger Jugendfreund): fesselndes Begriffstheater auf der Bühne des "absoluten" Denkens.

Über die tatsächliche Progressivität Hegels besteht Uneinigkeit. Marx bezeichnete den absoluten Idealisten als seinen vom Kopf auf die Füße zu stellenden Vorläufer. Im Grunde war Hegel selbst dann nicht restaurativ-autoritär, als er in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts meinte feststellen zu müssen, Vernunft und Wirklichkeit seien gleich.

Das Spiel von Herr und Knecht

Hingegen dürfte sich ein berüchtigtes Kapitel aus der "Phänomenologie" noch als enorm zukunftsträchtig erweisen: dasjenige von "Herr und Knecht", und wie die beiden einander bedingen. Gender-Theoretikerin Judith Butler wies unlängst auf Hegel als Philosophen der Anerkennung hin. Die menschliche Begabung für soziale Bindungen sollte uns veranlassen, Verpflichtungen gegenüber unseren Mitmenschen einzugehen.

Hegels Lehre von der Selbsterkenntnis steht eine lebendige Auffassung des menschlichen Miteinanders Pate: Nur wenn man sich selbst zum lebendigen Gegenstand des Wissens gemacht hat, besitzt man – nach Durchlaufen einer Phase der "Aufhebung" – die Voraussetzung für die Anerkennung des Gegenübers. Es sind dies Gedanken, die nicht nur in Berkeley Furore machen sollten. Sie gehörten auch an US-amerikanischen Polizeischulen gelehrt. (Ronald Pohl, 26.6.2020)